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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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der sichere Aufbau einer bürgerlichen Existenz kostet Lebenszeit. So war er, als der Sohn schließlich geboren wurde, 50 Jahre alt . . .
    1951 schreiben wir noch Nachkriegszeit in Deutschland. Doch es beginnen im Januar die Unterhandlungen der Bundesregierung mit den Hohen Kommissaren Frankreichs, Großbritanniens und der USA , wie sich die Bundesrepublik an einem Militärbündnis des Westens beteiligen könnte. Im April schließt man in Paris den Vertrag über die Montanunion ab, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die die traditionelle Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich abbauen hilft.

    Das Monument, die Gedenktafel, der Grabstein für das Jahr 1951 ist ein Taschen- oder Notizkalender – Merkbuch nennt ihn im Inneren die Titelseite – , in schwarzes Kunstleder gebunden, mit Goldschnitt, einem Stempelaufdruck hinten zufolge erworben bei C. F. Autenrieth Stuttgart.
    Das Verso der Titelseite bietet ein Formular, mittels dessen der Besitzer des Merkbuchs sich vorstellt: Mein Name und meine Wohnung. Wenn mir ein Unfall zustößt, so bitte ich um Mitteilung an. Fernsprecher. Lebensversicherung. Feuerversicherung. Unfallversicherung. Kleidergröße. Strümpfe, Schuhe, Handschuhe, Kragenweite, Hutweite – wobei dasselbe in einer zweiten Spalte ebenso »für ›Sie‹«, wie das Merkbuch schreibt, einzutragen ist.

    Bei dem handtellergroßen Merkbuch für das Jahr 1951 handelt es sich also eindeutig um ein männliches Utensil. Dass es an Vater adressiert ist, kommt in dem Augenblick heraus, da es Mutter einführt, unspektakulär, anhand ihrer Kleider- und Schuhgröße, als Anhang zu derjenigen Vaters. Warum taucht Mutter überhaupt auf? Diese Seite des Merkbuchs dient doch der Identifizierung Vaters – warum soll sie mittels dieser Angaben Mutter identifizieren?
    Vermutlich eine Geste der Höflichkeit. So wie es bei offiziellen Veranstaltungen ein Damenprogramm gibt, so muss Mutter hier irgendwo Erwähnung finden.

    Dass Vater Gelegenheiten sucht, hier vorn im Merkbuch sich der Hut- oder Kragenweite von Mutter zu vergewissern, ist auszuschließen – Vater hat gar keine Zahlen eingetragen. Zu lesen ist hingegen die Nummer seiner Krankenversicherung (statt der Lebensversicherung), 1422; sowie die Nummer seines Passes 0 – 118 793 (statt der Feuerversicherung): Über diese Daten meinte er also jederzeit verfügen zu müssen.
    Oder er trägt diese Daten ein, weil er über Krankenversicherung und Pass verfügt (statt über Lebens- oder Feuerversicherung) – er trägt sie ein, um überhaupt etwas einzutragen außer seinem Namen und seiner Adresse. So nimmt man am Anfang des Jahres den neuen Taschenkalender in Besitz.

    Das Merkbuch, in narbiges Kunstleder gebunden, evoziert sorgfältig gegerbtes und gefärbtes Echtleder – als müssten die Angestellten, die diese Büchlein in den Innentaschen ihrer Sakkos verwahren, sie gegen Wasser- und Hitzeschäden feien, nun ja; als führe man damit über die Weltmeere und müsse sie bei Sturm und Wellenschlag jederzeit zücken können, ebenso bei Expeditionen durch Wüsten oder Urwälder . . .
    Als wäre dies Merkbuch eine wertvolle Urkunde, die ihren Träger unbedingt überdauern sollte – was in diesem Fall sogar stimmt –, und dabei ist doch gerade der Angestellte, wie er die umfangreichste, aber nicht die herrschende Klasse stellt, die so leicht und folgenlos austauschbare Charaktermaske. Einer wie der andere.
    Vater riss gern drastische Witze über sich und sein Angestelltendasein. Seine Tatarenritte über die eurasische Steppe, hätte er gefeixt, habe das Merkbuch unter dem Sattel nur dank dem Kunstledereinband heil überstanden . . .

    Das Jahr 1951 beginnt mit Urlaub. Urlaub verzeichnet das Merkbuch am 2. Januar (der erste ist als Neujahr ja Feiertag) und am 3. Januar und am 4. Januar und so weiter bis zum 6. Januar, dem Samstag, der damals ein Arbeitstag gewesen wäre; Urlaub war der 8. Januar und der 9. und so weiter bis zum Samstag, dem 13. Januar. Der Urlaub dauerte bis zum Mittwoch, dem 17. Januar.

    Mit keinem Wort verzeichnet das Merkbuch, was Vater während dieser 14 Urlaubstage trieb und erlebte, welche Mahlzeiten Mutter zubereitete – ärmliche Gerichte, die aber 1951 schon langsam an Reichhaltigkeit und Sophistication zunahmen: Reichte Mutter zu den gekochten Makkaroni früher eine rote Sauce, die bloß aus Tomatenmark, Zwiebeln, Wasser, Salz und einer Prise Zucker bestand, so war die Sauce jetzt womöglich mit Sahne verfeinert,
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