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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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schreibt Vater Korntal? In Korntal selbst? Holt er das Merkbuch am Kaffeetisch der Familie Wertz aus der Innentasche seines Sakkos, den Füller aus diesem Täschchen daneben, und schreibt Korntal in die Rubrik für Sonntag, den 25. Februar 1951? Nein, er wartet mit dem Schreiben, bis er wieder allein ist, in dem Pensionszimmer von Klara Winkler, Berglenstraße, Gaisburg. Man muss allein sein, um das Wort zu schreiben, das schon ein Gedicht ist. Aber womöglich schreibt Vater Korntal erst am Montag, dem 26. Februar 1951, in das Merkbuch, in dem Büro der Steg Stuttgart, Marienstraße, um für diesen kurzen Augenblick des Schreibens mitten im Büro die Einsamkeit zu erzeugen, die es für das Schreiben braucht.
    Die Einsamkeit. Abends in seinem Pensionszimmer nach dem Besuch bei den Wertzens in Korntal, aber ebenso an jedem Feierabend hätte Vater seine Frau anrufen können, um zu besprechen, wie es geht und steht mit ihr und dem Sohn, wie es für ihn war bei den Wertzens. Das Wetter. Die Politik. Die Angehörigen. Aber sie hatten noch kein Telefon, damals, im Hause.
    Und man kann davon ausgehen, dass in den Pensionszimmern der Klara Winkler kein Telefon auf dem Nachttisch den Gästen zur Verfügung stand. So weit war es noch nicht mit der Infrastruktur der Bundesrepublik.
    Postkarten schrieb Vater regelmäßig aus seinen Arbeitsorten an Mutter (und Sohn), fotografische Ansichtskarten, und manchmal Briefe.

    »Dankeschön für das Formular. Ich komme also am Sonnabend und hoffe schon den Zug zu erreichen, der um 17.25 Uhr in Sp. eintrifft. Anderenfalls komme ich um 18.25 Uhr an. Ich bitte Dich, meine anderen braunen Schuhe zu besorgen, falls noch nicht geschehen. Über die Wohnung freue ich mich sehr. Dir und Michael recht herzliche Grüße.«
    »Vielen Dank für den Brief. Heute Nachmittag bin ich hierher gefahren. L. ist eine sehr hübsche Stadt, die sich lohnt. Mit unserer Wohnung ist’s ja scheußlich, den ganzen Winter noch in dem Haus am Wald, das ist wirklich schlimm. Meinen Brief hoffe ich in Deinen Händen. Herzliche Grüße Dir und Michael.«

    Wenn Vaters Aufenthalte an diesen Arbeitsorten sich ausdehnten, schrieb Mutter zurück, Briefe und Postkarten. So konnte man damals bloß durch Schreiben eine Ehe fortsetzen. Da würde ein Paar heute kommunikativ gewissermaßen verhungern, verdursten.

    Das ist nicht die Schrift von Vater, auf dieser Seite hinter dem Kalendarium, in der Abteilung Notizen, deren Blätter seitlich perforiert sind, damit man sie anstandslos herausreißen kann, ohne das Büchlein zu beschädigen: Cardiagol-Coffein in dieser kindlichen Schrift, darüber verzeichnet Vater in seiner Standardschrift Willy Diebel, DM 29.40, und darunter 31 024 sowie etwas Unleserliches.
    Was immer uns das sagen könnte – der Sohn war es, der Cardiagol-Coffein schrieb, das Kind von acht Jahren, in die Abteilung Notizen des Merkbuchs von Vater.
    Es scheint sich um ein Herzmittel zu handeln. Das war die Zeit, als Herzprobleme begannen, die leitenden Angestellten zu belästigen, der Herzinfarkt hieß Managerkrankheit und war ein Distinktionsmerkmal. Aber Vater war ja kein leitender Angestellter. Doch erwischte es auch ihn.
    Schreiben!, könnte der Dichter schwärmen. Es geht schon hier, bei dem achtjährigen Kind, um das Schreiben. In Vaters Merkbuch, Abteilung Notizen, den Namen eines Medikaments eintragen, das für Vater zu besorgen ist – das Vaters Arzt empfiehlt –, das ein Kollege von Vater gegen diese seine neuesten Beschwerden empfiehlt, wie Vater, endlich mal wieder zu Hause, am Abendbrottisch erzählt. Den Namen des Medikaments in Vaters Merkbuch zu malen schenkt dem achtjährigen Sohn das frühe Gefühl, was das Schreiben ist. So malte er mit Gusto Cardiagol-Coffein, ein Zauberwort, dessen Kraft ausschließlich aus dem Schreiben entsteht.
    Denn Sinn konnte er mit dem Namen nicht verbinden.

    Für Sonntag, den 18. März, darf Vater noch einmal Korntal schreiben. Ab dem 2. April prüft er wieder die Bücher der Spinnfaser in Kassel-Bettenhausen; am 3. April erhält er DM 300 Vorschuss auf seine Spesen; regelmäßig verzehrt er Mittag- und Abendbrot in der Kantine, was Kosten ergibt, die extra abgeführt werden müssen. Für Donnerstag, den 3. Mai, schreibt Vater in sein Merkbuch, gearbeitet, aber nicht angerechnet. Es handelt sich um einen Feiertag, Christi Himmelfahrt, geschenkte Überstunden.
    So erweist der kleine Angestellte seine Loyalität gegenüber dem Betrieb – was ihm der Betrieb dann
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