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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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aus als dritte, schlichtende Kraft. Der Sohn litt schwer unter ihrer Abwesenheit.
    Darüber entbrannte ein Zank, dessen Inhalt endlich mal überliefert ist: ob der Sohn für die Dauer von Mutters Krankenhausaufenthalt in die Kreisstadt übersiedle und dort die Schule besuche? Als Gast der befreundeten Familie Koelle, die früher mal Nachbarn waren in der kleinen Stadt, in dem Haus am Wald, aber endlich eine größere Wohnung in der größeren Kreisstadt gefunden hatten, wo Otto Koelle ohnehin als Chemiker arbeitete. Sie kamen ganz woanders her, Flüchtlinge, und würden später ganz woanders hingehen. Sie hatten in der neuen Wohnung genug Platz, um den Sohn als Logiergast aufzunehmen, sie freuten sich richtig darauf.
    Die Überlieferung verschweigt, wo genau die Konfliktlinien verliefen: ob Vater den temporären Umzug des Sohnes befürwortete, Oma aber strikt dagegen war (weil sie als Hausmutter damit entthront wäre)? Ob Oma dem Enkel die täglichen Besuche an Mutters Krankenbett, die in der Kreisstadt möglich wären, von Herzen gönnte, während Vater undurchsichtige finanzielle Belastungen aufgrund der Übersiedlung befürchtete? Vielleicht wusste der Sohn selbst nicht, was er wünschte, und verwirrte dadurch Vater und Oma, die blind zankten, um so wenigstens irgendeinen Standpunkt zu gewinnen. Der Knabe fürchtete sich vor der fremden Schule, den unbekannten Mitschülern, der anderen Stadt. Als besonders schrecklich malte er sich aus, wie ihn jeden Morgen beim Eintritt in die neue Klasse Gisela und Dorothee, die Töchter Koelle, flankieren und alle Jungs johlen.

    Keine Spur, wie gesagt, hinterließen diese Ereignisse in Vaters Merkbuch. Sonntag, der 3. Juni, beispielsweise, ist leer. Am Montag fährt Vater morgens um 6.12 Uhr zu Hause ab und trifft um 11.30 Uhr in Frankfurt am Main ein, wo er gleich die Arbeit bei einer Firma namens VES t beginnt. Die Rubrik Notizen unterhalb des 9. Juni führt Zahlen auf, 34 457, 8, 9. Dabei könnte es sich um die Kennziffern von Akten handeln. Außerdem H 2849, vermutlich die Nummer des Auftrags, wie sie Vater die ihn beschäftigende Firma vorgab.

    VEST respektive VES t heißt also die Firma, deren Bücher Vater in Frankfurt prüft, und wir könnten das Kürzel übersetzen mit Vereinigte Stahlwerke.
    So lautete der Name eines berühmten Konzerns, den 1926 die Thyssen-Gruppe durch Fusion mit der Phönix-Gruppe, den Rheinischen Stahlwerken, dem Bochumer Verein u. a. bildete.
    So berührt Vater, der kleine Angestellte, womöglich ein Vierteljahrhundert später das mächtigste Großkapital durch die Prüfung seiner Bücher.
    Die Vereinigten Stahlwerke gründeten bis 1930 drei Großunternehmen mit den imposanten Namen Mitteldeutsche Stahlwerke, DEMAG , Deutsche Edelstahlwerke, und sie entwickelten sich in den Dreißigern zum größten europäischen Stahlkonzern, zum zweitgrößten Stahlkonzern der Welt. In der Weltwirtschaftskrise hatte der deutsche Staat zahlreiche Anteile der Vereinigten Stahlwerke gekauft, um das Unternehmen zu retten, wobei Friedrich Flick einen stark überhöhten Preis für seine Anteile erzielte, was einen der Skandale auslöste, die das Ansehen der Weimarer Republik anhaltend schädigten.

    Vater pflegte zu Hause solche Geschichten ausführlich und mit heißer Wut zu erzählen. Sie waren ihm aus den Zwanzigern in Erinnerung, und jetzt standen sie ja immer mal wieder in der Zeitung. Das ikonische Pressefoto, das Friedrich Flick 1947 bei den Nürnberger Prozessen auf der Anklagebank zeigt, betrachtete er mit unverhohlener Schadenfreude.
    Vor den Reichstagswahlen 1932 sollen die Vereinigten Stahlwerke der NSDAP eine halbe Million Reichsmark gespendet haben. Der Konzern nahm intensiv teil an der Aufrüstung des Dritten Reiches – dann aber doch nicht in dem gewünschten Umfang und zu den gewünschten Konditionen, weshalb in Salzgitter die Reichswerke Hermann Göring gegründet wurden.
    Die Luftangriffe der Alliierten zerstörten die Produktionsanlagen der Vereinigten Stahlwerke tiefgreifend. Nach 1945 wurden Restkapazitäten demontiert, der Konzern in viele Einzelteile zerschlagen, wobei diese Einzelteile, wie Vater am Abendbrottisch sarkastisch erzählte, sich bald zu neuen Konzernen zusammenfanden, die an Macht und Größe die alten bei weitem übertrafen.
    An diesen grandiosen Bewegungen des Großkapitals nahm Vater nur als kleiner Angestellter einer Wirtschaftsprüfungsfirma teil; um persönlich von diesen Umgestaltungen weiter gehend zu profitieren durch
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