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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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Bildhauer des Mittelalters mit den Zügen des jungen Mädchens hingestreckt, das sie einst gewesen war.« 4

    Das sei doch schon wieder der reine Kitsch, hätte Vater heimlich gefeixt. Erstens habe er den Drachen gar nicht auf dem Totenbett gesehen. Zweitens sei der Drache im Tod gewiss nicht schöner geworden, keine Rückkehr zur Fotografie der hübschen jungen Frau – alles, was recht ist!
    Man weiß, dass Marcel Proust die Liebesgeschichte mit seiner Großmutter über die mit seiner Mutter kopiert hat, um Letztere zu kaschieren. Erst als Mutter gestorben war, vermochte er ungehemmt an seinem Buch zu schreiben, als wäre das ein verbotenes Triebgeschehen.
    Will uns die Psychoanalyse sagen, es habe eine subkutane Liebesgeschichte zwischen Vater und Großmutter gegeben, ungelebt, unausgesprochen, abgedrängt, voller Eifersucht, Missgunst und Neid? Ein Roman, zu dem alle Spuren fehlen?

    Nach denen der Spinnfaser in Kassel prüfte Vater die Bücher der Firma Kühne + Nagel in Bremen. Oktober. Die großen Bücher des Kapitals – dagegen dies kleine Buch, das Vater im Innern seines Sakkos zu verwahren pflegt, in Kassel, in Stuttgart, in Bremen.
    Kühne + Nagel heißt ein Speditionsunternehmen von internationaler Reichweite, das unterdessen seinen Firmensitz in einem Schweizer Ort namens Feusisberg hat, Kanton Schwyz. Gegründet wurde die Firma Kühne + Nagel 1890 von August Kühne und Friedrich Nagel als Seehafenspedition; sie operierte vor allem in deutschen Häfen. Ab 1950 begann die Firma zu expandieren – also zu dem Zeitpunkt, da Vater ihre Bücher prüfte – zunächst nach Kanada.
    Wiederum also nahm der kleine Angestellte am Rand an großen Bewegungen des sich zu diesem Zeitpunkt neu formierenden deutschen Kapitals teil.
    Er arbeitete gern bei Kühne + Nagel, er erzählte gern davon. Ihm imponierte der Expansionsdrang des Unternehmens, der sich in guter Bürolaune niederschlug. Man nahm teil an einem Aufbruch.
    Betriebsklima nannte das die Soziologie der Zeit. Gutes Betriebsklima herrschte bei Kühne + Nagel.

    »Die Übernahme meteorologischer Termini wie Atmosphäre und Klima bezeichnet recht gut die Verlegenheit, in der Soziologen und Psychologen sich befinden, wenn sie die in einer Institution oder Gruppe herrschende Grundstimmung zu fassen versuchen«, könnte ein Soziologe aus der Fachliteratur zitieren. »Zur besseren Verständigung über das zu fassende Phänomen appelliert man gern an die Alltagserfahrung. ›Die ungreifbare «Atmosphäre» einer Fabrik schlägt einem oft schon entgegen, wenn man noch kaum das Tor durchschritten hat: man verspürt sogleich einen Hauch von Freiheit, ungezwungener Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. In manchen anderen Fabriken dagegen – um den drastischen Ausdruck eines bekannten Unternehmers zu wiederholen – «stinkt es nach Furcht»‹, bemerkt Brown. ›Selbst der ungeübte Beobachter empfindet z. B. den starken Gegensatz, der zwischen der physischen, sozialen und kulturellen Atmosphäre eines Bergwerkes und derjenigen eines Krankenhauses, eines Büros oder einer Schule herrscht‹, erklären Miller und Form.« 5

    Das war Vater so wichtig wie allen Angestellten, dass er die ganze Zeit in einem Büro arbeitete und nicht in einem Bergwerk oder einer anderen Produktionsstätte, wo man sich die Hände schmutzig macht. Das bedeutete a priori eine andere Stimmung, ein anderes Betriebsklima.
    Kühne + Nagel, Seehafenspedition, nahmen Vater für sich ein, weil die Firma mit dem Meer befasst war. Als junger Mann wollte Vater zur See fahren – jetzt, mit 58, könnte er Kapitän auf großer Fahrt sein –, aber seine Mutter hielt ihn fest, ließ ihn nicht aufs Wasser, Wasser hat keine Balken. Er war das einzige Kind; sie hatte ihn allein, unehelich aufgezogen. In den Zwanzigern, als junger Angestellter auf dem Weg nach oben, schaffte sich Vater ein Segelboot an, eine Jolle, H 95, auf der er die Seen Brandenburgs und Mecklenburgs befuhr. Gemeinsam mit der jungen Frau, die dann Mutter wurde.

    In der Pelzerstraße 38 prüfte Vater die Bücher von Kühne + Nagel; telefonisch erreichte man sie unter 21 621 oder 21 727; der Auftrag trug die Nummer H 2986 – versteht sich, dass heutzutage unter den Telefonnummern niemand zu erreichen ist. – Im Adressenteil des Merkbuchs findet sich ein/e H. Homann, Erfurterstraße 1, Bremen, worunter wir uns die Pension, die Vater während der Prüfung bei Kühne + Nagel beherbergte, vorstellen wollen. Die Erfurter Straße liegt im
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