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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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irgendwann doch anrechnet, als Diensteifer, freiwilliges Engagement für die betrieblichen Belange.

    Für den April und die Spinnfaser sind außerdem Kürzel zu verzeichnen, die sich nicht auflösen lassen, DMEB , an sechs Tagen in Folge. Vielleicht hängt das Kürzel mit der Auftragsnummer zusammen, die am 25. April auftaucht, F 1342.
    Am 15. Mai kann Vater neben Mittag- und Abendbrot (in der Spinnfaser-Kantine) verzeichnen, Abschluss 31. III . 1950.
    Wenn wir das Spiel fortsetzen, dies sei Literatur: Der französische Nouveau roman der fünfziger und sechziger Jahre, könnte ein Literaturprofessor extemporieren, beutet solche Differenzen zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit fruchtbar aus. Dass sie auseinanderklaffen, erzeugt einen Riss, der sich ständig vergrößert. Am 15. Mai 1951 verzeichnet unser Erzähler, dass er in der Erzählung, die zu verfassen seinen Beruf ausmacht, die Bilanz der Firma Spinnfaser zu überprüfen, bis zum 31. März 1950 vorgedrungen ist – also nicht bis zum 15. Mai 1951, in die akute Erzählzeit hinein. Der Romancier könnte daraus, dass die erzählte Zeit für die Erzählzeit grundsätzlich unerreichbar bleibt, die permanente Verzweiflung des kleinen Angestellten ableiten, der es in der Gegenwart nie zur Realpräsenz bringt . . .
    Aber nichts spricht dafür, dass die Firma, für die Vater in Kassel unterwegs ist, eine solche Identität von Erzählzeit und erzählter Zeit herbeizuführen fordert; dass Vater am 15. Mai 1951 die Bilanzen der Spinnfaser bis zum 15. Mai 1951 überprüft haben sollte. Keine Spur eines solchen Drängens.

    Für den 12. Mai ist nachzutragen, dass Mutter Geburtstag feierte, sie wird 43. Was Vater so wenig in seinem Merkbuch verzeichnet wie den Geburtstag des Sohnes am 25. Mai.
    Das lohnt kein Aufschreiben, Vater hat die Daten im Kopf. Sie können in seinem persönlichen Tätigkeitsbericht fehlen. Sie gehören in die Familiengeschichte, die sich von selbst versteht.
    Es gab diesen Sommer viel Schmerz in der Familie. Mutter und Sohn, auf dem Fahrrad unterwegs in der lieblichen Landschaft des Mittelgebirges, erlitten einen Unfall: Als das Rad von Mutter, auf dessen Gepäckträger der Sohn hockte, einen Abhang hinunterrollte, geriet der Sohn mit der Ferse des linken Fußes in das Hinterrad – vielleicht ging ihm die Abfahrt zu schnell, und hinter dem breiten Rücken von Mutter sah er nicht, wohin sie rollten, weshalb er instinktiv zu bremsen versuchte.
    Ein rätselhaft aufquellender Schmerz im Fuß, wo es Achilles ebenso wie Ödipus ereilte, bemerkt die Psychoanalyse, dann ein Wehlaut, der Jokaste, der Thetis ins Herz trifft . . .
    Eine tüchtige Risswunde, die im Kreiskrankenhaus unter örtlicher Betäubung genäht werden musste, was den Jungen für diesen Sommer in seiner Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte. Zuerst das Bett hüten; dann auf einem Bein hüpfen; dann Humpeln an einem der Stöcke, die Jungs immer und überall zur Hand haben.
    Und hier begann das Unglück dieses Sommers erst richtig. Als er wieder korrekt laufen konnte, der Sohn, begleitete er Mutter auf einem Spaziergang in die Wälder, von denen die kleine Stadt umgeben ist. Regelmäßig unternahmen sie solche Spaziergänge, innig Gott und die Welt besprechend, wie sie das seit langem hielten – die Angehörigen sahen diese Intimität oft mit Sorge. Einen Abhang hinaufsteigend, knickte Mutter in dem weichen Waldboden um – grässlich sah es aus, das gebrochene Fußgelenk, wie es dem Sohn vor Augen stand. Voller Schrecken rannte er nach Hause, zu Häberles, die schon ein Telefon besaßen; sie riefen den Krankenwagen, der Mutter ins Krankenhaus der Kreisstadt fuhr, das kurz zuvor den kaputten Fuß des Sohnes repariert hatte.
    Ein Kind, das im Todesschrecken durch den lichtgrünen Sommerwald stürzt, helle Angst heißt das Gefühl, der Knabe in heller Angst. Mutters verdrehter Fuß. Sah aus, als könne er nie wieder heilen. Die helle Haut des Mutterfleisches gegen den dunkelbraunen Waldboden, wie ausgeschnitten.

    Großmutter übernahm den Haushalt, brachte den Knaben ins Bett, saß neben ihm beim Frühstück, schmierte die Pausenbrote. Servierte ihm nach der Schule das Mittagessen, beaufsichtigte die Schularbeiten, schickte ihn raus zum Spielen, die krumme alte Frau mit dem süß-staubigen Geruch.
    An den Wochenenden, wenn Vater nach Hause kam, tobten wieder die Kräche zwischen Großmutter und ihrem Schwiegersohn, denen der Enkel fassungslos, verständnislos folgte. Mutter fiel ja
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