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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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Firma zu Sonderkonditionen anmietet, damit der ambulante Angestellte seine Mahlzeiten selber zubereiten kann – danach Rotwein und Fernsehen – , davon waren wir noch weiter entfernt als von der Fünftagewoche . . .
    Schuld, schreibt Vater am Ende unter seine Spesenabrechnung, 409.30 Schuld. Das lastet auf ihm, das macht ihm Beine, das treibt ihn voran, Schuld.

    Vielleicht zankten sie wegen Geld, wegen seines Einkommens, das seit Jahren stagniere, das so niedrig bleibe, Vater und seine Schwiegermutter, die krumme alte Frau mit der ausgeleierten Hüfte. Immer wieder hatten sie es durchgesprochen in den Dreißigern, seine Schwiegereltern, hitzig, empört, giftig, dass ihre Tochter einen Mann heirate, der einen halben Kopf kleiner und 15 Jahre älter sei als sie, außerdem korpulent. Immerhin, sagten sie sich, er hat schöne Aussichten in seiner Firma, aus ihm wird mal was Größeres, diesem Würfel auf Beinen, eine richtige Karriere. Er kann ihr was bieten.

    Vielleicht verfolgte Schwiegermutter schon ihren eigenen Ehemann wegen seines geringen Einkommens mit Vorwürfen – dabei war sie so hübsch als junge Frau, wie er immer wieder proklamierte und mit den Fotos demonstrierte. Und jetzt verfolgte sie den Schwiegersohn, der 1951 58 Jahre alt wird und immer noch so wenig verdient, dass er weder seiner Frau noch ihrer Mutter noch seinem Sohn ein gutes Leben bieten kann. Keine Spur der substanziellen Karriere, die sie mit dem kleinen dicken Mann, dem Würfel auf Beinen, 15 Jahre älter als ihre Tochter, versöhnt hätte. Und jetzt, 1951, Nachkriegszeit, war sie selbst direkt abhängig von seinem Einkommen.
    Die Spesen aber bildeten in Vaters Einkommen so etwas wie eine dynamische Größe. Auf die Spesen, die an verschiedenen Orten in verschiedener Höhe verbraucht wurden, konnte Vater Hoffnungen richten, wie bescheiden auch immer.

    Er arbeitete dann in Stuttgart, prüfte die Bücher einer Firma namens Steg, wie das Merkbuch erzählt. Der Auftrag trägt die Nummer F 1225 c, wie am Mittwoch, 7. Februar, Aschermittwoch, vermerkt ist. Näheres unter der Telefonnummer 74755 – heute in Stuttgart natürlich stumm. Die Adresse ist Marienstraße 41, was so genau Vater in seinem Merkbuch selten vermerkt. In der Regel ist der Arbeitsplatz des Angestellten ortlos, eine Superstruktur.
    Am 9. Februar ist wieder ein Vorschuss von DM 300 notiert; am 10. Februar, dass Frau Winkler DM 50 erhielt. Sie ist in der Adressenabteilung des Merkbuchs hinten als Klara Winkler verzeichnet, wohnhaft in der Berglenstraße 14, Stuttgart. Vermutlich betrieb sie dort eine Fremdenpension, und die DM 50 sind ein Vorschuss auf die Übernachtungskosten. Die Berglenstraße liegt praktisch in Gaisburg, weit entfernt von der Marienstraße im Zentrum (wo die Steg residierte und Vater tagsüber arbeitete), es kamen also noch Stuttgarter Fahrtkosten hinzu.
    Steg, genauer St EG , deren Stuttgarter Bücher Vater im Februar und März prüfte, hieß mit vollem Namen Staatliche Erfassungsgesellschaft für öffentliches Gut – bis in die achtziger Jahre hinein konnte man in so genannten Steg Shops für wenig Geld amerikanische Soldatenklamotten und ebensolche von der Bundeswehr kaufen.
    Die Geschichte ist kompliziert und schwierig zu erzählen. 1946 wurde die Steg als Gesellschaft zur Erfassung von Rüstungsgut gegründet. Sie sollte die Erbschaft des Krieges verwerten, Abertonnen Heeresmaterial, Abertonnen Aluminium-Schrott, zu dem die Flugzeuge der Luftwaffe zerlegt worden waren; die Weiterverwertung von Flugzeugmotoren und Nachrichtengeräten, die Entschärfung und Aufarbeitung von Abertonnen Munition.
    Ursprünglich übereignete die amerikanische Militärregierung das Zeug den Länderregierungen der amerikanischen Zone. Dann aber brachte sie ihren eigenen Militärramsch ein, weitere Abertonnen Material. Hinzu kamen so genannte Überflussgüter im Wert von 62 Millionen Dollar, normale Bekleidungsstücke, aber auch Spezialitäten wie Segeltuchgamaschen; außerdem Seesäcke, Schuhfett, Entroster, Metallputz; Kisten- und Büchsenöffner, Spiegel, Zahnbürstenbehälter, Seifendosen – ein unüberschaubares Sammelsurium.
    Vater konnte viel berichten von zweifelhaften Geschäften bei der Steg; hübsche Gelegenheiten für seinen Sarkasmus. Vor allem erzählte er aus den frühen Jahren, der Zeit des Schwarzmarktes, als wertloser Ramsch zu hohen Preisen verschoben wurde. Vater wusste die Legenden zu kolportieren, zu denen sich dieser Handel inzwischen verdichtet
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