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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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hoher Schornsteine. Schließlich Wohnhäuser für die Belegschaft, schon 123 Werkswohnungen, tönt es, im Jahr 1939 – und das alles im Krieg durch die ausgiebigen Bombardements von Kassel tüchtig demoliert.

    Es ist nachzutragen, dass 1951 in diesem Haushalt zusammen mit Vater, Mutter und Kind Oma lebte, eine krumme alte Frau von 72 Jahren. 1949 musste sie Berlin verlassen, weil sie allein in ihrer Wohnung nicht mehr zurechtkam. Und es fehlte ihr an Geld; Opa war selbstständig gewesen, selbstständiger Fotograf, und hatte es zu keiner ordentlichen Rente gebracht, von der nach seinem Tod die Ehefrau hätte fortexistieren können.
    Oma war Mutters Mutter. Sie litt an einem angeborenen Hüftschaden, der sie schon als Kind hinken machte und im Lauf der Jahre ihren Körper verbog. Dass sie als junge Frau außerordentlich hübsch war, erkannte man nur noch auf alten Fotografien.
    Oma hörte, sogar als sie von seinem Geld und in seinem Haushalt lebte, Vater als Ehemann ihrer Tochter abzulehnen nicht auf, unmöglich zu klären, warum. Immer wieder lärmten heftige Streitigkeiten durch das dicht besiedelte Haus und beschäftigten die Nachbarn.
    Das charakterisierte die Nachkriegszeit, dass an den Kleinfamilien – Vater, Mutter, Kinder – Verwandte hingen, Onkel, Tanten, Schwiegereltern, die der Krieg um ihre Ehepartner, um Wohnung und Einkünfte gebracht hatte.

    Das kennen wir jetzt: der persönliche Geschäftsbericht, Spinnfaser, Kassel, Mittag; dito, Vorschuss DM 300, Mittag, Abend; dito (auch am Sonnabend bei der Spinnfaser, Kassel). Dann in der Abteilung Notizen, die jede zweite Seite des Merkbuchs unten abschließt, eine Reihe von Rechnungen.
    Es handelt sich um die zweite Abteilung dieser Rechnungen; die erste steht in dem Feld für Mittwoch, 31. Januar, und beide Male geht es wohl um den Vorschuss von DM 300, dessen Verwendung Vater hier im Einzelnen dokumentiert. Kein Vorschuss aufs Gehalt des Angestellten, vielmehr auf die Spesen, die eine ambulante Berufsarbeit erfordert, Tagegeld, Übernachtungsgeld, Fahrgeld, sauber aufgelistet, addiert und subtrahiert und abgerechnet.

    Damals war es zur Fünftagewoche, wie das dann hieß, noch weit, damals arbeitete man sechs Tage die Woche.
    Wie Gott!, hätte Vater gefeixt. Während in allen anderen Hinsichten seine Gottähnlichkeit viel zu wünschen übrig ließ. Gott schuf den Angestellten und starb . . .
    Der Sohn behielt sein Leben lang in Erinnerung, wie Vater den Knaben, der über seinen künftigen Beruf fantasierte, ermahnte: Werd niemals Angestellter.
    Kleiner Angestellter, weisungsgebunden. Chef wäre Vater gern gewesen; lange lief in seinem Arbeitsleben alles darauf hinaus, dass er mal einer der Chefs sein würde. Die Karriere führte, wie es sich gehört, nach oben. Aber als er Vater wurde, war es damit schon lange vorbei; Vater zu werden, sagten Freunde und Angehörige, endlich, mit 50 – nein, dass das Ersatz war, kann man unmöglich sagen. Aber die Karriere von Vater befand sich im Stillstand; dass sie irgendwann wieder in Fahrt kommen könnte, hielt er für ausgeschlossen.
    Schreiben!, möchte man tagträumen, Schreiben bietet das ideale Versteck für die Gottähnlichkeit. Aus der Innentasche des Sakkos das Merkbuch fischen und an dem Schreibtisch, der ihm zugewiesen ward bei der Spinnfaser für die Überprüfung der Bilanzen, Spinnfaser, Kassel, aufschreiben, als wäre es das Tagebuch von Thomas Mann.

    »Andauernde Klarheit. – Neue Nuclear tests mit bengalischem Licht, leichtem Erdbeben und gelegentlichem ›sunburn‹ eines Farmers. Unfug. Unfug. – Basler schrieb von den fürchterlichen Lavinen-Verschüttungen in den Schweizer Alpentälern. – Erschüttertes System. Für heute angenommene Photographen abgesagt. – – Gearbeitet am Kapitel. – Gegangen allein mit dem Pudel bei sehr schönem Wetter. – Den ganzen Tag sehr unwohl, gequält und reizbar.« 2

    Inmitten des Schwefelgestanks der Hölle, inmitten des Büros ausrechnen, wie Tagegeld, Übernachtungsgeld, Fahrgeld den Vorschuss auf die Spesen aufessen, mittels deren die Firma, die ihn anstellt, ihre Gottähnlichkeit beweist. Den ganzen Tag sehr unwohl, gequält und reizbar.
    Aber was bedeutet das wiederkehrende Mittag, Abend? Weitere Ausgaben vermutlich, die sich auf den Spesenvorschuss auswirken, Mahlzeiten, die Vater in der Kantine der Spinnfaser einnimmt. Oder in einem Restaurant nahebei, Mittagspause, Feierabend, man muss doch was essen, und solche Appartements, wie sie heute eine
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