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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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einen neuen Job, durch eine andere Karriere, dafür war er, wie alle wussten, wie Vater immer wieder sagte, einfach zu alt.
    Anhand der Bücher, einzig anhand der Bücher nimmt Vater teil an den Grundwellen des Großkapitals in den ersten Jahren der Bundesrepublik.

    Sie zog sich bis Ende Juli hin, die Prüfung der Bücher bei der VES t, den Vereinigten Stahlwerken.
    Die es gar nicht mehr gab, wie man leicht nachlesen kann, und deren offizielles Kürzel VESTAG lautete.
    Bald schrieb Vater nicht mehr VES t, sondern EVS t.
    Was womöglich Ehemalige Vereinigte Stahlwerke bedeutet. Wo sie, die längst aufgelöst waren, damals in Frankfurt am Main residierten, konnten wir nicht ermitteln.
    Also schon wieder Poesie. Wir treiben Vater über die Bücher in eine Konfrontation mit dem verbrecherischen deutschen Großkapital hinein, die so gar nicht stattgefunden hat. Da war kein Großkapital, wo Vater VES t oder EVS t in sein Merkbuch schrieb.

    Im August arbeitete er dann wieder bei der Spinnfaser in Kassel, Schwefelgestank der Hölle, und bei der Steg, Stuttgart, weshalb er am 26. August erneut Korntal schreiben darf. Vom 12. bis zum 22. September erstrecken sich dann die Sommerurlaubstage. Danach wieder Spinnfaser.

    Am 21. September erreicht das Unglück dieses Sommers eine neue Stufe. Mutters Mutter, mit der Vater sich so oft so gründlich zankte, starb.

    Nicht daheim, unter den Augen des Sohnes, der den Schrecken, der ihn ereilte, kaum gefasst hätte. Vielmehr in dem Kreiskrankenhaus, wo ihre Tochter seit Wochen den gebrochenen Fuß auskurierte.
    Damals versprach die Medizin sich Heilwirkungen davon, dass man die Patienten auf länger im Krankenhausbett fixierte und sie gewissermaßen kasernierte – das war irgendwie noch das übergreifende Modell, die Kaserne. Auch Krankheiten geht man am effektivsten militärisch, jedenfalls durch autoritäre Kontrollmaßnahmen an.
    Die Großmutter erlitt einen zweiten Schlaganfall, dem Sohn kam nichts davon vor Augen, Oma war plötzlich weg. Aber Vater war ja da, Urlaub, und redete in Andeutungen. Der erste Schlaganfall hatte sich dem Sohn als dieses Bild eingeprägt: Die alte Frau lag unter einer hellen Decke still auf dem Sofa, und Mutter erklärte: Sie muss sich ausruhen. Mutter erzählte später immer wieder, wie sie dann in dem Kreiskrankenhaus die letzte Nacht am Bett ihrer Mutter verbringen durfte. Sie sah ihr also beim Sterben zu – was den Sohn brennend interessierte: wie es ausschaut, das Sterben. Aber er schämte sich seiner Neugier und erzählte erst Jahrzehnte später mal davon, bei einem anderen Begräbniskaffee. – Außerdem quälte den Knaben, dass er, weil Oma am Sonntag begraben würde, deshalb die Kindervorstellung versäumte: Es gab Walt Disneys Schneewittchen. Wie er es Oma verübelte, dass ihre Beerdigung ihn vom Kinobesuch abhielt, dafür schämte er sich schon gar, wie er gleichfalls Jahrzehnte später erzählte. Gelächter. Immerhin weinte der Knabe am Grab heftig, und das beruhigte ihn: So schlecht von Charakter war er also gar nicht.

    Versteht sich, dass in Vaters Merkbuch jeder Hinweis auf Krankheit, Tod und Begräbnis der Schwiegermutter fehlt. Das waren keine Daten, die der persönliche Geschäftsbericht anzuführen hätte.
    Das dauert erfahrungsgemäß lange, bis das Schreiben die persönliche Erfahrung berühren darf, das ist das Schwerste. Schon gar, wenn es um Liebe und Tod geht, um den Tod geliebter oder innig gehasster Personen.

    »Einige Stunden darauf konnte Françoise, ohne ihr damit Schmerzen zu bereiten, ein letztes Mal das schöne Haar meiner Großmutter kämmen, das eben erst ergraute und bislang weniger alt gewirkt hatte als sie selbst«, schwärmte ein Dichter. »Jetzt dagegen war es das einzige, was dies junggewordene Gesicht mit der Krone des Alters versah, dies Gesicht, aus dem alle Runzeln, alle Verkrampfungen, alle Verwischtheit der Züge, Spannung, Erschlaffung, die seit so vielen Jahren das körperliche Leiden darauf abgelagert hatte, weggeblasen waren. Wie in der fernen Zeit, da ihre Eltern für sie einen Gatten ausgesucht, war ihr Antlitz von Reinheit und Ergebenheit überhaucht, ihre Wangen glühten von keuscher Hoffnung, einem Traum vom Glück, ja unschuldsvoller Fröhlichkeit, die die Jahre nach und nach darauf verwüstet hatten. Das Leben ging und nahm die Enttäuschungen des Daseins gleichfalls mit sich fort. Ein Lächeln schien auf den Lippen meiner Großmutter zu liegen. Auf dies letzte Lager hatte der Tod sie wie ein
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