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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Autoren: Ulrich Wickert
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jüngerer Bruder war im Drogenkrieg mit Kerlen aus dem »Quartier des Courtilles« getötet worden. Er hatte mit der Bande, zu der er gehörte, eine Hanfplantage in einer verlassenen Fabrik geplündert.
    »Ich reiß das Zeug alles raus, sobald wir im Wald sind, und schmeiße es weg!«, keifte sie.
    »Bist du wahnsinnig geworden, Frau? Haben wir das Zeug erst einmal verkauft, können wir uns endlich ein Haus in Marrakesch leisten!«, brüllte Mohammed zurück und schlug ihr zweimal so fest ins Gesicht, dass ihr Kopftuch verrutschte. »Setz dich ins Auto und schweig!«
    Einen schrillen Laut ausstoßend warf Aicha den Picknickkorb auf den Boden, kletterte zu ihrer kleinen Tochter Kalila auf die hintere Bank des Wagens und knallte die Tür zu.
    Fluchend sammelte Mohammed Besteck und Tüten ein, die aus dem Korb gefallen waren und stellte ihn in den Kofferraum.
    Mohammed schaute auf die Uhr. Jetzt wurde es Zeit, und der Freund war noch nicht da. Er ging auf die Straße, kein Freund nirgendwo zu sehen. Er ging zurück zum Wagen, stieg ein, und als er aus der Ausfahrt auf die Straße bog, stieg sein Freund gerade von seinem Motorrad, sprang auf den Beifahrersitz und drehte sich zu Aicha und Kalila, um sie freundlich zu begrüßen.
    Aber er erntete nur eisiges Schweigen.
    Als Mohammed losfuhr, schlug ihm Aicha plötzlich mit aller Kraft zweimal auf den Hinterkopf und lehnte sich dann mit einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck wieder zurück, als wäre nichts geschehen. Mohammed bremste so scharf, dass Frau und Kind gegen die Rücklehnen der Vordersitze geworfen wurden.
    Alle schrien durcheinander.
    Die kleine Kalila hielt sich die Ohren zu, dann klappte sie die Armlehne im Rücksitz hoch, wodurch ein breiter Durchschlupf frei wurde. Um dem andauernden Streit der keifenden Eltern zu entfliehen, kletterte sie mit ihrem samtweichen Plüschmarienkäfer im Arm nach hinten, wo Mohammed ein Versteck eingerichtet hatte, das ihm für seine Kurierfahrten in die Schweiz diente, etwa wenn er dort ungewöhnlich hohe Beträge an Bargeld abholte.
    Das sechsjährige Mädchen hatte sich angewöhnt, in die dunkle Höhle zu fliehen, wenn die Eltern sich anschrien. Und das taten sie häufig. In diesem Schutzraum fühlte sich Kalila geborgen. Er schirmte sie vor allem ab.
    Wütend gab Mohammed Gas und fuhr schneller als erlaubt auf dem Périphérique, um die Verabredung mit seinem Auftraggeber im Wald von Ville-d’Avray pünktlich einzuhalten.

Der englische Zeuge
    » W elche Rahmengröße fahren Sie?«, fragte Monsieur Philippe den Engländer, der sein Cannondale Supersix neben dem Rad des Coiffeurs aus Meudon vor dem Bistro »La Petite Reine« abschloss.
    Major Glen Stark zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Sein Französisch war so schlecht, dass er die Frage nicht verstand. Philippe beugte sich über das Rad, suchte die eingeprägten Ziffern und sagte: »Ah, Sie haben ein Dreiundsechziger. Sie sind auch größer als ich. Ich habe einen vierundfünfziger Rahmen.«
    »Oh, Dreiundsechziger«, lachte Glen Stark, »ja. Ich bin auch sechs Fuß und sechs Zoll groß.«
    Jetzt lachte Philippe: »Sehr groß. Aber ich weiß nicht, was sechs Fuß sind.«
    Der Coiffeur hatte seinen Kaffee getrunken, stand jetzt mit dem Wirt des Bistros und einem Kellner auf dem Trottoir und führte stolz alle Feinheiten seiner kleinen Königin vor, als Glen Stark auf der Straße anhielt, prustend von seinem Sattel stieg und das Rad auf den Gehsteig hob.
    Es war kurz vor halb neun.
    Das Palaver ging über den seltenen Zufall, dass sich hier zwei Radfahrer aus verschiedenen Nationen mit dem gleichen, teuren Modell trafen. Allerdings war das Gerät des Engländers schon Tausende von Meilen gerollt und zeigte dies mit allerhand Spuren am Rahmen, am konischen Gabelschaft, an den Rädern.
    Stark war schon eine halbe Stunde unterwegs.
    Er hatte sein Rad mitgenommen aufs Zimmer Nummer  60 im Hotel »Jeanne d’Arc« im Marais. Als er im Internet nach einer Übernachtung »mit Fahrrad« in Paris gesucht hatte, war er auf diese Adresse gestoßen. Zimmer 60 war karg möbliert. Neben einem Bett mit einer geschmacklosen Blumendecke stand nur noch ein kleiner Bistrotisch. Der Major hatte ein Foto von sich und dem Rad neben dem Bett mit Selbstauslöser aufgenommen und ein zweites neben der Wanne in dem blau gekachelten Bad. Die Aufnahmen wollte der Hotelier auf seine Website stellen, wo man andere Bilder von »room+cycle« anklicken konnte.
    Vom Hotel »Jeanne
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