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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Autoren: Ulrich Wickert
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gehörte es sich für einen Radrennfahrer, auch nur den geringsten Luftwiderstand so gut wie möglich zu beseitigen. Jedes Härchen könnte den Bruchteil einer Sekunde ausmachen. Es rasierten sich doch alle, selbst die Dopingsünder von der Tour de France. Er war zwar kein Rennfahrer, fühlte sich aber manchmal so, wenn das Adrenalin in seinen Körper schoss, wie »Poupou«. So lautete einst der Spitzname von Raymond Poulidor, der dreimal Zweiter und fünfmal Dritter bei der Tour wurde, aber nie Erster. Ein Pechvogel. Wahrscheinlich hat er sich nicht genug gedopt.
    Als Philippe Lefèvre um halb acht aus dem Fenster nach dem Wetter schaute und die Sonne sah neben dem Eiffelturm, der in den blauen Himmel hineinragte, sagte er sich: Ein perfekter Tag, um mein neues Rad einzuweihen.
    Monsieur Philippe, wie er in seinem Coiffeur-Salon im Pariser Vorort Meudon genannt wurde, hatte das Cannondole Supersix Hi-Mod für nur fünftausend Euro erstanden, mit einem BB 30  Tretlagergehäuse, in dem sich eine Carbonkugel von Cannondale dreht. Bremsen und Schaltung stammten aus SRAMs leichter »Red«-Gruppe. Nur sechs Kilo wog das ganze Rad.
    Er quetschte sich in sein neues Outfit, eine knielange graue Hose und ein gelbes Trikot mit aufgedruckten schwarzen Hosenträgern. Philippe zog den Bauch ein und presste alle Luft aus dem Brustkorb, um in die hauteng anliegenden Sachen zu passen.
    Fast jeden Sonntag war er mit einem halben Dutzend Freunden unterwegs. Nie weniger als sechzig Kilometer, das war Ehrensache. Aber heute, mitten in der Woche, nahm sich außer ihm keiner frei.
    Für die Jungfernfahrt mit seinem neuen Rad hatte sich Philippe eine besonders schwere Strecke ausgedacht. Er würde von Meudon aus den abschüssigen Berg nach Sèvres hinabrollen, im Bistro »La Petite Reine«, dem Stammlokal aller Radfahrer der Gegend, anhalten und einen Kaffee trinken. Und natürlich würde er das Rad vorstellen, seine »petite reine«, seine kleine Königin. Das war zärtlich gemeint, die kleine, zarte Königin Rad im Gegensatz zum dieselstinkenden, lauten König Automobil.
    Nach dem Kaffee würde Philippe die steile Route des deux Étangs, den Waldweg zu den zwei Teichen, nach Ville-d’Avray hochfahren und von dort hinüber nach Versailles rollen. Das war sein Plan.

Das Zielobjekt
    U m neun Uhr, bitte keine Minute früher, aber auch keine Minute später, möge er, Mohammed, sich im Wald von Ville-d’Avray einfinden. Im Wald, damit man sie nicht zusammen sähe. Es dauere nicht lange. Es gehe wieder um eine Kurierfahrt. Wie immer nach Genf.
    Er würde die Familie gern zu einem Ausflug mitnehmen, schlug Mohammed seiner Frau Aicha vor, auch die kleine sechsjährige Kalila, die schulfrei hatte, würde dabei sein. Beim Picknick. Und er wusste auch schon an welchem Feld in der nahen Normandie er anhalten würde. Aber das sagte er seiner Frau nicht.
    Gestern war Mohammed in der Nähe von Houdan zufällig an einem Maisfeld vorbeigekommen, das sehr ungewöhnlich wirkte. Er hielt an und sah, dass der Mais andere Pflanzen nur notdürftig verdeckte: Es war ein illegales Hanffeld. Geschwind hatte er einige große Stängel mit ausladenden Blättern abgeschnitten und in den Kofferraum geladen. Einmal getrocknet und zu Hasch verarbeitet, würde ihm die Ernte mindestens hunderttausend Euro bringen. Eben mal so, nebenbei! Vielleicht könnte er heute noch ein wenig mehr abschneiden. Und damit sich die Hanfernte lohnte, hatte er vom Wagen aus seinen ältesten Freund aus der alten Vorortbande angerufen. Kommst du morgen mit? Klar, der war sofort dabei, als Mohammed ihm das mit der Hanfplantage erzählt hatte. Bei dem Ausflug würde für beide viel rausspringen.
    Am Abend hatte Mohammed den großen alten Citroën in der engen Einfahrt seines Hauses geparkt und das eiserne Tor zur Straße hin geschlossen. Aber er war nicht mehr dazu gekommen, den Hanf auszuladen. Aicha wartete schon mit dem Essen auf ihn. Zu Ehren seines Schwagers Ibrahim, der morgen früh zurück nach Marrakesch fliegen würde, wo er in einem Ingenieurbüro arbeitete, hatte Aicha eine Tagine mit Lamm gekocht, und anschließend gab es noch ein Couscous.
    Als Aicha am nächsten Morgen den Picknickkorb in den Kofferraum stellen wollte, entdeckte sie die Hanfstängel. Hysterisch schrie sie ihn an: »Du unglaublicher Idiot, du bringst uns noch ins Unglück!«
    Aicha, die wie Mohammed in den letzten Hütten des Bidonville von Gennevilliers aufgewachsen war, wusste, was Hanf bedeutete. Ihr
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