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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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    Der Schrei kommt um halb vier vom Osten her. Plötzlich zerreißt er die Stille, gellt durch die Nacht und erstirbt in den Tiefen des Waldes. Eine kurze, eine trügerische Pause tritt nun ein, ehe ein weiteres Brüllen ertönt, tief jetzt und wütend, heiser und wild.
    Durch das Buschwerk streicht ein warmer Lufthauch, in den Ästen flattert ein nervöser Vogel auf. Und als hätte die Natur mit seinem zarten Flügelschlag den Taktstock gehoben, als hätte sie nur ihre Kräfte gesammelt, Atem geholt, um für ein dröhnendes Forte gerüstet zu sein, setzt gleich darauf ihr gesamter bombastischer Klangkörper ein. Aus hundert Kehlen kreischt und flötet, jault und krächzt es auf einmal los, aus hundert Mäulern erschallt die markerschütternde Dschungelkakophonie, weitet sich aus, pflanzt sich fort, während das Scharren und Stampfen Hunderter Pranken, Krallen und Hufe den Boden erzittern lässt.
    Der Lemming horcht auf. Schüttelt langsam den Kopf und rasch das Gemächt. Schließt dann die Hose und tritt hinter dem Baum hervor. Nach und nach klingt er ab, der gespenstische Lärm, verhallt in den Alleen, bis nur noch vereinzelt die schrillen, hysterischen Rufe der Makaken zu vernehmen sind.
    «Affenpack», murmelt der Lemming. «Nervöses Affenpack   …» Und während er seinen Rundgang fortsetzt, wenden sich seine Gedanken Darwins Evolutionslehre zu, der belegten Verwandtschaft zwischen tierischen und menschlichen Lemuren. Wie zur Bestätigung schimmert im Mondschein der Kaiserpavillon durch die Bäume, der, wie der Lemmingfindet, ganz zu Recht im Zentrum des ausgedehnten Zoogeländes steht: Als einziges Gehege dient er der Pflege und Fütterung des Homo sapiens; Tag für Tag finden sich riesige Horden hungriger Primaten hier ein, um Würstel und Schnitzel zu vertilgen, während sich ihre Jungen an Pommes frites und Palatschinken gütlich tun. Nicht anders als die Paviane und Schimpansen schlingen sie alles in sich hinein, was ihnen vom Wärter, dem Kellner nämlich, aufgetafelt wird; nicht anders als der Radau der Makaken klingen ihre fordernden Lockrufe:
Zahlen! Ober! Ober! Zahlen!
    Der Lemming malt sich eine Herde unbekleideter Wiener aus, die sich mit einer Rotte ebenso nackter Japaner um einen Hamburger balgt. Hausmeister und Direktoren erklimmen schnatternd und johlend die Brüstungen des Pavillons, hopsen ungestüm und zähnefletschend auf dem Dach herum, klatschen sich auf ihre kugelrunden Bäuche und wackeln mit den leuchtend weißen Ärschen. Der Lemming muss schmunzeln – ein Schmunzeln, für niemanden bestimmt als für ihn selbst.
    Es kann schon passieren, dass man ein wenig wunderlich wird, wenn man als einsamer Wächter seine Runden dreht. Vor allem in der Nacht. Besonders in Schönbrunn. Und ganz besonders im Schönbrunner Tiergarten. Man hört Myriaden von Stimmen und kann sie nicht verstehen, man fühlt Legionen von Blicken und kann sie nicht erwidern. Man ist nicht allein und ist es doch. Und was man sich trotzdem am wenigsten wünscht, ist die Begegnung mit einem Geschöpf der eigenen Art, die Begegnung mit einem Menschen   …
    «Hallo   … Ist da jemand?»
    Einen Moment lang scheint es dem Lemming, als hätte er ein Licht gesehen, ein Funkeln in der Nähe des Polariums. Er verlangsamt seine Schritte. Zieht eine Taschenlampe hervor, schaltet sie ein und richtet den Strahl auf den Boden.
Nie in die Gehege leuchten!
, so hat er es schon vor zwei Jahrengelernt, als er eingeschult wurde. Die Tiere haben ein Recht auf ungestörte Nachtruhe. Wenigstens die Tiere   …
    «Hallo?»
    Der Lemming bleibt stehen.
    Es zählt beileibe nicht zu seinen Pflichten, unerwünschte Besucher einzufangen. Seine Aufgabe besteht vor allem darin, mögliche Eindringlinge abzuschrecken und – gegebenenfalls – zu vertreiben. Meistens sind es ja harmlose Zeitgenossen, die über Zäune und Mauern ins Innere des Geländes klettern, Jugendliche etwa, die ihren Mut beweisen wollen, oder Obdachlose auf der Suche nach einer freien Parkbank. Es gibt ja schließlich kaum etwas zu stehlen im Zoo: Giraffen und Gnus zählen nicht gerade zur gängigen Beute städtischer Räuber und Diebe, Kamele und Zebras stehen selten auf der Wunschliste von Hehlern und Schwarzhändlern.
    Der Lemming starrt in die Dunkelheit. Nein, es war wohl nichts. Eine Täuschung der Sinne vielleicht. Allenfalls ein Reflex des Mondlichts auf dem Glasdach des neu erbauten Regenwaldhauses. Er dreht die Lampe aus und setzt sich wieder in Bewegung. Zu seiner
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