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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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versteht sich.
    «Au, Castro, aus   … Genug jetzt   … Schon gut   …», stöhnt lachend der Lemming. Er rappelt sich hoch und geht, den hechelnden Hund neben sich, auf das kleine Winzerhaus zu, das sich in ein Wäldchen knorriger Obstbäume schmiegt. Statt es jedoch zu betreten, umrunden die beiden das Haus,müde und schweigsam der eine, der andere in sorglosem Tänzelschritt. Und noch bevor sie um die Ecke biegen, kann der Lemming schon riechen, was er erwartet, erhofft hat: den Duft von Kaffee, von frischem Gebäck, von Eiern und Speck   … Kurz gesagt: Frühstück.
    Die balsamische Vorspeise dieser morgendlichen Mahlzeit aber ist der Duft von Klara Breitners schwarzem Haar. «Kokos», konstatiert der Lemming, als er die Nase darin vergräbt. Klara faltet die Zeitung zusammen, wendet sich um und zieht ihn an sich.
    «Schön   …», sagt sie. Nur: «Schön   …»
    Das Liebesleben des Lemming hat sich merklich beruhigt. Beruhigt in einer Art, die der fröhlichen Resignation einer Schiffsbesatzung entspricht, wenn die vorausgegangene Sturmflut Ruder und Kompass zerstört, ihr Leben aber verschont hat. Man lässt sich treiben, vertraut auf das Schicksal, die Strömungen und die Gezeiten. Man lenkt nicht mehr und ist doch in Bewegung, in einer Bewegung, die umso synchroner verläuft, je weniger man sie zu steuern versucht.
    Dass der Wind zwischen Klara Breitner und Leopold Wallisch nicht immer günstig stand, dass ihr Kurs nicht selten ein verhängnisvoller Kollisionskurs war, darüber ließen sich ganze Romane schreiben. Allein die missglückten Manöver und Navigationsfehler des Lemming würden mehrere Logbücher füllen. Dazu kam noch, dass Neptun die beiden ordentlich durchgeschüttelt hat, am Anfang ihres Verhältnisses gleich, und dann – zuletzt – vor gut zwei Jahren. Damals hat der Lemming einen halb nackten Mann in Klaras Haus angetroffen: den hünenhaften und muskelstrotzenden Raubtierpfleger Rolf. Klara, die als Tierärztin bisweilen auch im Zoo beschäftigt ist, hatte ihm für ein paar Nächte Unterschlupf gewährt – nicht mehr. An mehr wäre Rolf auch gar nicht interessiert gewesen: Immerhin ist er der schwulste Großkatzenfreund seit Siegfried und Roy. Das musste auchder Lemming am Ende einsehen. Aber vor diesem Ende war er der rasenden Eifersucht wegen schon selbst am Ende gewesen, und sein peinlicher Trugschluss hatte beinahe zum Schluss der Beziehung geführt. Beinahe nur, glücklicherweise: Die Liebe hat schließlich auch diese Klippen umschifft.
    Inzwischen hat Neptun wohl die Waffen gestreckt, um seine Sturzwellen und Orkane für weniger duldsame Seefahrer aufzusparen; er hat sich in gewissem Sinn den Wind aus den Segeln nehmen lassen. Der Lemming und Klara dümpeln nun endlich durch ruhigeres Fahrwasser. Treiben neben- und miteinander dahin, einer einsamen Insel entgegen, einem bevölkerten Kontinent? Man weiß es nicht   …
    Schweigsam verläuft die folgende Stunde: Unter dem schillernden Baldachin der weinumrankten Gartenlaube sitzen die zwei und genießen ihr Frühstück im Grünen. Von weit her kann man ein helles, lang gezogenes Pfeifen hören: Hoch fliegen heute die Schwalben.
    Irgendwann aber schiebt der Lemming den Teller von sich, lehnt sich zurück und beginnt zu erzählen. Klara hört zu, mit gerunzelter Stirn, durch deren elfenbeinfarbene Haut schon bald ein bläulicher Streifen schimmert: die pulsierende Ader des Zorns und der Lust, die der Lemming so fürchtet und liebt. Obwohl sie diesmal kein Zeichen der Wollust ist, sondern der Wut, lässt sie den Lemming – anders als sonst – nicht verstummen: Nicht er ist es, dem Klaras Zorn in diesen Minuten gilt.
    «Scheiße!», stößt sie hervor, als der Lemming geendet hat. «Wer tut so etwas!»
    Wie von selbst wandern die Augen des Lemming zur Zeitung hin, die neben Klara auf der Holzbank liegt. Suchen die Lettern der Schlagzeile.
Wer tut so etwas!,
erwartet er schon zu lesen, doch der Text lautet anders:
Skandal! Nun schweigen die Erpresser!,
so hat die
Reine Wahrheit
heute getitelt. Eine relativschwache Leistung, wie der Lemming findet, aber bitte: geschenkt. Schließlich bezieht eine Vielzahl der Österreicher ihre Sonntagszeitung gratis   …
    «Was ist, Poldi? Willst du jetzt Zeitung lesen?»
    «Nein, nein», winkt der Lemming ab, dem Klaras vorwurfsvoller Tonfall nicht entgangen ist. «Ich hab nur kurz geglaubt   … Ich hab nur befürchtet, dass da etwas drinsteht   … Blöd von mir, das wär sich ja schon
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