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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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zeitlich gar nicht ausgegangen.»
    «Da wird auch morgen nichts drinstehen, wenn ich dich recht verstanden hab   … Dass der Stropek nichts unternommen hat, gar nichts, nicht einmal eine Anzeige   … Ich mein, ich versteh’s ja irgendwie. Aber trotzdem, man kann doch solche Leute nicht ungestraft   …»
    «Geht mir genauso», sagt der Lemming.
    Eine Zeit lang herrscht Stille zwischen den beiden. Dann ergreift der Lemming wieder das Wort.
    «Ich hab so ein Gefühl», sagt er. «Ein komisches Gefühl   …»
    «Wieso komisch?»
    «Weil   … Erstens die Sache mit den Türen. Kannst du dir erklären, warum sich so ein Arschloch die Mühe macht, den Besuchereingang aufzubrechen, wenn er dann doch durch die Hintertür kommt, um das Viecherl zu massakrieren?»
    Klara wiegt den Kopf hin und her. «Ich weiß nicht», meint sie schließlich. «Vielleicht hat er sich nicht ausgekannt mit den Baulichkeiten. Hat zuerst die falsche Tür erwischt. Oder er ist erst im Schauraum auf die Idee gekommen   …»
    «Dann hätt er den Strick nicht mitgehabt   …», winkt der Lemming ab. «Einen Revolver meinetwegen, den tragen manche Leut immer bei sich, aber ein Seil?»
    «Cowboys höchstens   …», murmelt Klara.
    Der Lemming muss lächeln. Er mag es, wenn sich Klara in bedrückter Stimmung mit einem kleinen Scherz Erleichterungverschafft. Sie selbst mag es weniger, scheint sich immer ein wenig schuldig zu fühlen für diesen Mangel an Pietät. Trotzdem tut sie es immer wieder, glücklicherweise.
    «Und zweitens?», nimmt Klara mit dem gebotenen Ernst den Faden wieder auf.
    «Was zweitens?»
    «Zweitens. Du hast
erstens
gesagt. Erstens die Sache mit den Türen. Also   … Zweitens?»
    «Natürlich!» Der Lemming greift sich an den Kopf. Dreht sich dann um und zieht das Portemonnaie aus seiner Leinenjacke, die er zuvor über die Sessellehne gehängt hat. «Der Zettel! Der magische Zettel des Golem!»
    Lange studiert Klara das kleine Stück Papier, fährt mit den Fingern darüber, als wäre es eine Nachricht in Blindenschrift.
    «1   -   8   -   1   -   4   -   1   -   8   -   4   -   5   -   1   -   7   -   4   -   2   -   1   -   4   -   0   -   3   -   2   -   0   -   0   -   1   -   1   -   3   -   2   -   7   …», murmelt sie schließlich. Und wie auf ein Zeichen gerät nun der Tisch in Bewegung, schaukelt, wie von Geisterhand geschüttelt, hin und her, dass die leeren Kaffeetassen klirren.
    «Sitz, Castro! Platz!»
    Castros Schnauze taucht unter der Tischkante auf. Um sich gleich darauf – mit einem jaulenden, vielleicht ein wenig verlegenen Gähnen – in den Schoß des Lemming zu legen.
    «Jahreszahlen», sagt Klara jetzt und nickt energisch, wie um sich selbst zu bestätigen. «Achtzehnvierzehn, achtzehnfünfundvierzig, siebzehnzweiundvierzig und so weiter   … Das sind Jahreszahlen, Poldi!»
    «Zeig einmal her   … Ja   … Du könntest Recht haben. Aber   …»
    «Was aber?»
    «Aber   … was soll das? Vor allem in diesem Zusammenhang? Und davon einmal abgesehen: Was mich betrifft, bin ich ein völliges historisches Lulu   … Siebzehnzweiundvierzig, vierzehnhundertdrei   … Klingelt da etwas bei dir?»
    Es klingelt bei Klara, noch ehe sie antworten kann. Das Telefon nämlich, das drinnen im Vorraum steht.
    «Na geh   …»
    «Ich geh schon», lächelt der Lemming, hebt mit einer Geste des Bedauerns Castros dösenden Schädel von seinen Knien und steht auf.
    «Poldi?»
    «Ja?»
    «Geh, sei so lieb und bring mir nachher die Salzgurken aus der Küche   …»
    Der Lemming tritt durch den hinteren Eingang ins Haus, erschauert kurz in der kühlen Luft zwischen den dicken alten Steinmauern. Hebt dann den Hörer ab.
    «Bei Breitner?»
    «Ja, äh   … bin ich da richtig bei   … Momenterl, sind Sie’s, Wallisch?»
    «Grüß Sie, Herr Doktor   …»
    «Na so ein Glück, wo ich doch eh auf der Suche nach Ihnen war   … Zu Hause hab ich Sie nicht erreicht, also hab ich mir gleich gedacht, dass Sie vielleicht bei der Frau Doktor, also bei der Frau Magister   …»
    Stropek verstummt. Fährt dann – ungewohnt zögerlich – fort: «Sie müssen entschuldigen, dass ich da mitten am Sonntag, in Ihrer Freizeit   … und das nach so einer Nacht, also dass ich da störe   …»
    «Ist schon gut, Herr Doktor. Was verschafft mir denn die Ehre?»
    Eine Zeit lang herrscht Stille in der Leitung. Dann aber tut er es wieder. Stropek nämlich: Er seufzt. Allerdings
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