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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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Rechten ragen die mächtigen Silhouetten der Elefanten auf; jetzt, im Spätsommer, dürfen auch sie ihre Nächte im Freien verbringen. Ein Schatten löst sich aus dem Pulk der dösenden Riesen und trottet lautlos auf den Lemming zu. Ein Schatten allerdings, der deutlich kleiner ist als jene seiner Artgenossen. Abu hat erst vor knapp zwei Jahren das Licht der Welt erblickt und seither die goldenen Herzen der Wiener im Sturm erobert. Auch das des Lemming, nebenbei. Jetzt lehnt sich der kleine Elefant an die dicken Baumstämme, die das Gehege umgeben, und reibt sich daran.
    «Hallo, Abu   …», sagt der Lemming leise. «Alles in Ordnung?»
    Abu antwortet nicht. Stattdessen streckt er dem Lemming den Rüssel entgegen.
    «Tut mir Leid   … Heut hab ich nichts für dich   …»
    Das waren noch Zeiten, als die Wiener den Zoo gestürmt haben, um verfaulte Äpfel und Bananen, verschimmeltes Brot und vertrocknete Semmeln an die Tiere zu verfüttern. Kinderzeiten – der Lemming erinnert sich noch gut daran. Später konnte man beim Eingang kleine Säckchen mit Getreide und Trockenfrüchten erwerben, die dann wahllos in die Käfige der Panther, Schimpansen oder Nilpferde geworfen wurden   … Überhaupt, die Käfige: Vor zwanzig Jahren noch waren es winzige, schmutzige Zwinger, kahle, stinkende Schaukästen, in denen das Elend regierte. Dem alten Löwen beispielsweise stand ein Weg von knapp fünf Metern zur Verfügung, um seinen Bewegungsdrang zu stillen. Er hatte seine Schritte auswendig gelernt und setzte sie Tag für Tag, Woche für Woche in derselben Weise an dieselben Stellen. Er tat es ohne Unterlass, pendelte von früh bis spät zwischen seinen Kerkermauern hin und her. Dieser stetige, rhythmische Trott des Königs der Tiere hat den kleinen Lemming manchmal bis in den Schlaf verfolgt.
    Viel hat sich seither geändert im ältesten Zoo der Welt. Seit er im Jahr 1991 privatisiert wurde, weht der Wind der New Economy durch seine Zeilen und Promenaden. Großzügig und modern sind die stahl- und glasbewehrten Freigehege, die man zwischen den kaisergelben Volieren der barocken Menagerie errichtet hat, großzügig auch die Preise, die man für sprechende Stofftiere, Mogli-Burger und Spazierfahrten mit dem lustigen Dumbo-Express berappen muss. Aber bitte: Wo sonst wäre Globalisierung wohl besser am Platz als im Zoo? Bei allen Vorbehalten, die man gegen den Profitwahn der bilanzverliebten Hominiden haben kann: Hier profitieren auch die Tiere davon, das muss sogar der Lemming zugeben. Traurig nur, dass sich der Zweck von Amüsierbetrieben dieser Art im Laufe der Zeit so gewandelt hat. Dienten die Tiergärten früher der puren menschlichen Sensationsgier, so haben sie sich mittlerweile zum globalen biologischen Erfordernisentwickelt: Sie sind die letzten Refugien beinahe ausgerotteter Arten, die letzten Tröpfchen Wildnis, die sich eine moribunde Welt gerade noch hervorzuquälen vermag. Der größte Feind der Natur bietet ihren kümmerlichen Resten heute Schutz – und verdient abermals daran:
Kommet und zahlet, sehet und staunet! Wir sind noch immer nicht kaputt!
    Der Lemming wendet sich dem Affenhaus zu, in das nun wieder Ruhe eingekehrt ist. Nichts regt sich hinter den Gitterstäben der Gibbons und Makis, nur im gewaltigen Glaskobel der Orang-Utans ist eine leise Bewegung wahrzunehmen: Nonja, die Künstlerin, die Malerin mit den traurigen Augen. Am frühen Morgen wird wieder der Pfleger mit Buntstiften und Lebensmittelfarben in ihr Gehege treten, und die Orang-Utan-Dame wird sich an die Arbeit machen. Tief versunken und hochkonzentriert wird sie ihre Skizzen und Gemälde auf Papier und Leinwand werfen, ungegenständliche Bilder, die wenig später zu Liebhaberpreisen den Besitzer wechseln werden. Über den Chefsesseln nicht weniger Bankiers, Magnaten und Politiker hängen heute schon gerahmte Nonjas, echte Nonjas, wenn auch unsignierte   …
    Der Lemming tritt näher an die Glaswand, späht hindurch, die Hände links und rechts an den Verschlag gestützt. Und als hätte Nonja schon darauf gewartet, taucht jetzt aus dem Dunkel ihre dichte Mähne auf. Kurz lässt sich ihr zerfurchtes Gesicht erahnen, kurz legen sich ihre langen, ledernen Finger von innen an jene des Lemming. Ein leises Vorbeiwischen nur, eine Geste, ein Gruß – schon ist die Affendame wieder in den Tiefen ihrer Urwaldmaisonette verschwunden.
    Der Lemming mag seine Nachtdienste. Er mag seine einsamen Runden durch das menschenleere Tierreich. Wahrscheinlich
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