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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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Daunen dringt jetzt an das Ohr des Lemming, dann das unverkennbare Klicken eines elektrischen Schalters. Offenbar fällt nun ein Lichtstrahl in das Ödland des Stropek’schen Geistes: Schon treiben die ersten Keime der Erkenntnis aus, streben in Reih und Glied dem schmerzhaften Zustand der Wachheit entgegen.
    «Zehn nach vier, Wallisch   … Zehn nach vier   …»
    Im Hintergrund wird jetzt eine Frauenstimme laut: «Was ist denn? Was ist denn passiert?»
    «Nix, Mausi, gar nix   … Also sagen S’ schon, Wallisch, was ist denn   … Was ist denn passiert? Und überhaupt   … Sie habendoch heut gar net   … Heut ist doch der Pokorny an der Reihe, oder bin i schon ganz vertrottelt   …»
    «Ja, Herr Doktor», beeilt sich der Lemming zu erklären, «also ich meine, nein, Sie sind natürlich nicht   … Das stimmt schon, der Pokorny wär heute dran. Nur, der Pokorny ist kurzfristig   … also   … verhindert. Erkrankt. Eine Magenverstimmung. Und da hat er mich   … Da bin ich halt für ihn eingesprungen.»
    Der Lemming hält mit seiner freien Hand die Muschel zu und räuspert sich. Die Bereitschaft, einem Freund mit einer kleinen Notlüge den Rücken zu decken, zählt wohl zur Grundausstattung des menschlichen Anstands. Je entfernter einem aber dieser Freund nun ist, je weiter er also an den Rand des Freundes- oder gar Bekanntenkreises rückt, desto mehr wird die Notwendigkeit zum Luxus, desto edler wird die Tat des Lügenden. Aber Pokorny ist nun einmal ein Kollege, und für Berufsgenossen gilt das Gleiche wie für Verwandte: Das relative Soll der Lüge wird zum absoluten Muss. Ganz einfach aus Gründen familiären Zusammenhalts.
Blut ist kein Rotz
, das hat schon die Großmutter des Lemming immer gesagt   …
    Gestern am frühen Nachmittag war es, da hat es an seiner Wohnungstür in der Servitengasse geklingelt, und draußen auf dem Gang ist Josef Pokorny gestanden: ein hagerer Mann mit halblangem, grauem Haar und einer etwas zu groß geratenen, leicht geröteten Nase. Der Lemming war so erstaunt über den unverhofften Besuch, dass er ihn zunächst gar nicht hereingebeten hat. Und als er es schließlich doch tat, war es Pokorny, der abgelehnt hat: «Du, danke, Wallisch, ein anderes Mal   … Ich muss dann gleich weiter   …»
    Sein Kollege hat nervös gewirkt, das ist dem Lemming nicht entgangen, obwohl er ihm bis gestern erst einmal begegnet ist – bei der Hochzeitsfeier eines Elefantenpflegers, die vor einem halben Jahr im Kaiserpavillon stattgefunden hat.
    Nachtwächter sind keine besonders geselligen Menschen, und schon gar nicht miteinander. Sie sind ja schließlich aus dem Kreislauf der Geselligkeit herausgerissen, ihr Beruf das Gegenstück zum üblichen Alltag – eine Allnacht sozusagen. Ihr Feierabend ist der frühe Morgen, an dem sie ihr Revier den Beamten der Tagwache überlassen. Tag- und Nachtwächter existieren zwar gewissermaßen kontrapunktisch, aber sie existieren immerhin noch in derselben Welt. Eine größere Distanz der Biotope findet sich nur zwischen alternierenden Nachtwächtern: Sie bewirtschaften einander nie berührende Paralleluniversen; sie drücken einander nicht einmal die Klinke in die Hand.
    Der Lemming stand nun also seinem Alter Ego gegenüber und zog fragend die Augenbrauen hoch. Pokorny trug einen schwarzen Koffer in der Hand, aber keinen von der Art, wie man sie zum Transport von Kleidern oder Akten verwendet. Ein unförmiges, asymmetrisches Ding war es, so unförmig und asymmetrisch wie ein handelsübliches Akkordeon.
    «Ich hab ein Angebot bekommen», hat Pokorny gesagt, «eines, das ich unmöglich ablehnen kann. Ein Auftritt in Linz, heute Abend   … Du weißt ja, Wallisch, in Linz beginnt’s   … Und da wollte ich dich fragen, ob es möglich wäre, dass du   …»
    «Ich hab gar nicht gewusst, dass du Ziehharmonika spielst», hat der Lemming entgegnet und anerkennend genickt. «Und dann auch noch öffentlich   …»
    «Ja, siehst du, so lebt man aneinander vorbei.» Josef Pokorny hat kurz und ein wenig verlegen gegrinst. Hat dann die Linke so von sich gestreckt, dass der Ärmel seines grünlich karierten Sakkos wie von selbst hochgerutscht ist, und hat – kurz und konzentriert – auf sein nacktes Handgelenk gestarrt.
    «Du, also   … Ich müsst jetzt dann los, zum Bahnhof   … Wie schaut’s aus? Kannst du heut Nacht für mich übernehmen?»
    «Sicher», hat der Lemming gemeint. «Sicher, mach dir keine Sorgen. Was tut man nicht alles für die
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