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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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auf: Natürlich, auch hier ist das Schloss aufgebrochen. Zwei, drei Schritte noch durch einen schmalen, schmucklosen Wirtschaftsraum, und der Lemming stößt den Eingang zum Gehege auf.
    Mit dem Licht schlägt ihm jetzt auch die Eiseskälte ins Gesicht, raubt ihm beinahe den Atem. Schon ist er hinter dem erhängten Tier, hebt es mit einem Arm an, versucht mit der freien Hand die Schlinge zu lösen. «Sauerei! Sauerei!», keucht er, und seine Flüche verstofflichen sich, gefrieren sofort in der Luft und schweben als schimmernde Wölkchen nach oben. Beim dritten Versuch erst gelingt es ihm, den kleinen, schlaffen Körper aus der Kordel zu befreien – er sinkt zu Boden, den toten Vogel in seinen Armen.
    Ein friedlicher Anblick, trotz allem. Wäre es ein sonniger Vormittag, die staunenden Schulkinder drückten sich jetzt im Besucherraum auf der anderen Seite der Glasfront die Nasen platt. Ein Raunen ginge durch ihre Reihen, und der fachübergreifende Unterricht zwischen Kunst, Religion und Naturkunde wäre perfekt. Im Hintergrund das Dutzend der stummen Apostel, reglos und abgewandt, eine Allegorie der Ohnmacht. Und in der Mitte, zentral komponiert, das Martyrium   … Ja, sie ist schon ein klassisches Bild, die Pietà des Lemming mit dem Pinguin.
    Die Bilder, die den Verstand des Lemming in diesen Sekunden bevölkern, sind aber eher archaischer als christlicher Natur. Von edlen Regungen wie Milde und Vergebung sind sie weit entfernt. Einmal nur, denkt er, einmal so ein Dreckschwein in die Finger kriegen. Einmal nur, und dann   … O nein, kein Pardon. Kein frömmlerisches
Wenn dich einer auf die linke Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere hin
. Keine Rücksicht, keine Nachsicht: Auge um Auge, denkt der Lemming, Zahn um Zahn   …
    Er lässt den Kadaver zur Erde gleiten, um aufzustehen, als sein Blick auf den halb geöffneten Schnabel fällt. Etwas blitzt auf darin, etwas Kleines und Helles, ein Fremdkörper ganz offenbar. Er fasst an die schmalen Kiefer des Vogels. Zwängt sie behutsam auseinander. Was unter der Zunge des Pinguins steckt, ist kein Hering, kein Henkersmahl. Ein Papierschnitzel ist es, den der Lemming mit spitzen Fingern herausfischt, ein zusammengerollter Zettel, kaum größer als eine Sardelle.
    Als der berühmte Rabbi Löw im Prag vergangener Tage den Golem erschuf, da vollendete er sein Werk, indem er der leblosen Lehmfigur ein Stück Papier unter die Zunge schob. Der unaussprechliche Name Gottes stand darauf geschrieben, und die magische Kraft dieses Schriftzugs war es, die das Wesen zum Leben erweckte. Der Zettel aus dem Schnabel des Vogels dürfte wohl keine so mächtige Zauberformel enthalten. Trotzdem: Als der Lemming ihn nun auseinander rollt, gilt sein erster Gedanke der Kabbala, jener alten jüdischen Geheimlehre und ihrer legendenumwobenen Zahlenmystik   …
    181418451742140320011327
: eine Ziffernfolge, das ist alles, was auf dem Zettel steht. Der Lemming murmelt sie vor sich hin wie ein Mantra, so andächtig wie auch verständnislos.
    Kaum aber ist seine Stimme verhallt, kommt Bewegung in den versteinerten Pinguinpulk, der nach wie vor an der Peripherie des Raumes steht. Eines ums andere wenden sich dieTiere jetzt dem Leichnam ihres Artgenossen zu. Rücken dann ab, mit vibrierenden Flügelchen, trotten in weitem Bogen an den Rand des Wasserbeckens und tauchen ins eisige Nass.
     
    «Stropek?» Belegt, ja gebrochen klingt die Stimme am anderen Ende der Leitung, und obwohl sie ihrem Besitzer beinahe den Dienst versagt, scheint sie allemal wacher zu sein als der Rest seiner Lebensgeister. Die Stimme eilt gewissermaßen dem Verstand voraus; sie pflügt gehorsam den Boden für die Aussaat der ersten Gedankenpflänzchen.
    «Wallisch hier, Herr Doktor», keucht der Lemming in den Hörer, «Leopold Wallisch.»
    Er ist, so rasch es seine unterkühlten Glieder zugelassen haben, vom Polarium zum Häuschen des Wachpersonals gelaufen, ist auf dem kurvigen Weg durch das Dunkel gestolpert, auf dem Dienstweg sozusagen, um seinem Chef – ganz nach Vorschrift   – Bericht zu erstatten. Was bedeutet, dass bei groben, vom Wachorgan festgestellten Ordnungswidrigkeiten umgehend der Dienst habende Vorgesetzte zu informieren und dessen weiterführende Entscheidung abzuwarten ist. Im Grunde ein kybernetisches Paradoxon, fast so, als setzte das Rädchen den Hebel in Bewegung, nicht umgekehrt.
    «Wallisch   …», murmelt Stropek. «Wallisch also   … Momenterl   …» Das traute Geraschel von
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