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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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steckt da ein Rest von Kindlichkeit in ihm, ein pubertärer Hang zum Dschungelabenteuer. Vielleicht ist es aber auch die geradezu biblische Dimension seiner Arbeit, die ihn immer wieder aufs Neue wohlig erschauern lässt:
    Sobald die Pforten des Zoos geschlossen sind und die Sonne hinter Hietzing versinkt, verwandelt sich Schönbrunn in eine Arche, die er – und nur er alleine – mit unerschrockener Entschlossenheit durch finstere Stunden steuert. Ja, er mag es, sich wie ein Verschnitt aus David Livingstone und Noah zu fühlen, auch wenn er das üblicherweise nicht zugibt. Zählt es doch zu den Grundgesetzen der Lohnarbeit, dass sie keine Freude machen darf.
Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot erwerben
, das hat schon der Allmächtige gesagt. Soll man sich für sein Vergnügen auch noch bezahlen lassen?
    Ein Schweißtropfen bahnt sich den Weg in den Kragen des Lemming, während er den Aufstieg zum Polarium in Angriff nimmt. Warm ist es und drückend feucht: beileibe keine Nacht für weite Wanderungen. Trotzdem steht der kleine Elektrowagen des Wachdienstes ungenutzt hinten im Wirtschaftshof. Der Lemming verwendet ihn nie. «Spazieren geh ich zu Fuß», pflegt er zu brummen, wenn ihn die Kollegen von der Tagschicht damit hänseln. Was er unerwähnt lässt, ist eine peinliche Begegnung vor zwei Jahren, damals, als er den Wagen zum ersten und einzigen Mal in Betrieb genommen hat. Eine Begegnung neben dem Gatter des Streichelzoos. Ein Rendezvous mit einem Baum   …
    Er passiert nun das mächtige Robbenbecken, stapft verträumt und bedächtig den Hang hinan. Und da, inmitten schweifender Gedanken, sticht ihm das Irreguläre ins Auge, das Alarmierende: ein schmaler Lichtstreif, der nur wenige Meter vor seinen Füßen auf den Asphalt fällt. Der Lemming stutzt. Wendet sich stante pede nach links, zur breiten Front des Pinguinhauses hin. Die Tür des Hauses steht weit offen. Ihr Flügel, zersplittert, hängt schief in den Angeln. Heraus strömt das frostige Licht der Antarktis und durchschneidet die schwüle Wiener Nacht.
    Man hat so seine Vorstellung von einem Pinguin. Besonders in Wien. Pinguine, so lernt man es hier schon als Kind, lebenin großen Gruppen hinter dickem Glas. Sie sehen lustig aus, wie winzige Oberkellner oder Dirigenten, aber sie sind nicht lustig. Sie bieten dem Betrachter selten mehr als ihren nackten Anblick. Kein Schnäbeln und Schnattern, kein Hüpfen und Flattern amüsiert den zahlenden Besucher, auch kein Sprung in das schillernde Wasserbecken, das sich hinter der Scheibe aus Panzerglas durch das Gehege zieht. Völlig unbewegt stehen die kleinen Kellner Seite an Seite, stehen in fahlem Licht auf weiß getünchtem Waschbeton und starren an die Wand. Ein gnädiger Künstler hat dort eine Linie gezogen, einen waagerechten Strich, der die Mauer in zwei Sphären teilt: in eine obere blaue und eine untere weiße. Die Pinguine starren auf den Horizont aus Dispersion, der ihrer kleinen, kalten Welt die Grenzen setzt.
    Man hat so seine Vorstellung von einem Pinguin. Doch das Bild, das sich dem Lemming bietet, als er mit gebotener Vorsicht den Raum betritt, läuft jeder Erwartung zuwider. Unlogisch ist es, widersinnig, ja polar zu jeglicher Vernunft, und das im wahrsten Sinn des Wortes.
    Reglos wie immer stehen die Kellnervögel im Halbkreis und fixieren den trügerischen Horizont. Zwölf Tiere sind es, die dem Lemming ihre schwarzen Rücken zugewandt haben. Einer aber, der dreizehnte, blickt exakt in die Gegenrichtung. Blickt völlig ungerührt zur Glaswand hin. Er starrt dem Lemming ins Gesicht.
    Und er fliegt.
    Seine Füßchen schweben einen halben Meter über dem Boden, die flossenförmigen Flügel hat er schräg von sich gestreckt. Wie ein Guru, ein Fakir, ein levitierter Heiliger hängt er in der Luft: Er fliegt zwar, aber er flattert nicht. Nicht mehr, jedenfalls.
    Um seinen kurzen Hals liegt eng ein dünner, roter Strick und spannt sich straff nach oben hin, zu einem Fensterriegel in der Decke des Geheges. Durch die Luke aber fällt ein leisesFunkeln: Es ist das ferne Leuchtfeuer des Polarsterns – ein stummer Wegweiser in den Pinguinhimmel.

2
    «Sauerei! Verdammte Sauerei!»
    Der Lemming sprintet los, läuft wieder in die Nacht hinaus. Er umrundet im Laufschritt das Pinguinhaus, bis er vor einer unscheinbaren Hintertür zu stehen kommt.
Zutritt verboten – Nur Personal
: Die Aufschrift lässt sich in der Dunkelheit gerade noch erahnen. Er drückt die Klinke, die Tür gleitet
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