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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Autoren: Ulrich Wickert
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seine unglaubliche Geschichte wieder und wieder.
    Unglaublich war sie, weil man den kleinen Vorfall, der Jérôme so erregte, weniger im Reich der hohen Politik, als unter pubertierenden Jungen und Mädchen vermuten würde.
    Am Tag des Wahlsiegs von François Hollande war der fröhliche Arzt von Belleville mit einer lauten Truppe von Stammgästen aus dem Bistro »Aux Folies« auf die Place de la Bastille gezogen. An der Bastille, dort wo einst die Revolution ausgebrochen war, feierten die Sozialisten aus Tradition, wenn es, was selten genug war, etwas zu bejubeln gab.
    Die Leute aus Belleville nahmen an Siegesfeiern der Linken stets mit innerer Überzeugung teil, denn sie vergaßen nie, dass es ihre Vorfahren waren, die einst die Pariser Kommune errichten wollten. Ein politischer Traum, der 1871 zusammenkartätscht worden war. Die Kommunarden aus Belleville waren an die Wand gestellt und füsiliert worden. Seitdem ruhten sie in der süd-östlichen Ecke des Friedhofs Père Lachaise.
    Jérôme stand also an jenem Abend auf der Place de la Bastille mit seinen Freunden weit vorne an der Tribüne, wo schon die eine oder andere Flasche kreiste. Dem Sieger nahestehende Musiker gaben ein großes Konzert: Juliette, Cali, Yannick Noah, Ridan, Anaïs, Camélia Jordana. Auch der 86  Jahre alte Schauspieler Michel Piccoli trat auf und heizte die Menge an.
    Wie ein Bienenschwarm klammerten sich einige Hundert Menschen an den schräg ansteigenden Sockel der Säule inmitten des überfüllten Platzes.
    Gegen elf zeigte sich schließlich der frisch gewählte Präsident François Hollande seinen Wählern.
    Mit ihm strömten die führenden Sozialisten auf die Bühne, darunter auch die von ihm verlassene Mutter seiner vier Kinder, Ségolène Royal.
    Alle umarmten François Hollande.
    Schließlich gab er auch seiner Ex je eine Bise, einen Wangenkuss, zuerst auf die linke und dann auf die rechte Backe. Was nicht viel bedeutet, weil sich in Frankreich ja auch miteinander befreundete Männer so begrüßen.
    Man könne es nicht glauben, was dann geschah, feixte Jérôme regelmäßig an dieser Stelle seiner Erzählung. Ja, aber er habe es selber gesehen!
    Denn kaum sah Hollandes schöne Valérie diese banale Geste ihres Lebensgefährten gegenüber seiner Ex, da stürzte sie sich auch schon auf ihn, den zukünftigen Präsidenten der Republik, der vorne an der Rampe stand, und brüllte ihm laut und launisch ins Ohr:
    »Du küsst mich jetzt sofort vor allen auf den Mund.«
    Er tat es. Und der Kuss wurde live gesendet.
    Spät abends hat Jérôme die Geschichte brühwarm noch an der Theke von Aux Folies weitergetratscht und alle zum Lachen gebracht. Valérie habe sich benommen wie eine Vierzehnjährige gegenüber ihrem ersten Freund. Jérôme schaute sich die Szene immer wieder auf YouTube an.
    »Kommst du mit auf einen Kaffee?«, fragte Jacques den jovialen Hausarzt.
    »Geht nicht«, antwortete der und wedelte mit seiner Zeitung, »ich habe gleich Sprechstunde. Vielleicht sehen wir uns heute Abend. Oder hast du viel zu tun?«
    »Geht so!« Jacques winkte Valérie und Nicolas im Kiosk zu und ging hundert Schritte die Rue de Belleville hoch zum Bistro »Aux Folies«, begrüßte den Wirt mit Handschlag – salut Gaston, salut Jacques – und setzte sich auf seinen Stammplatz.
    Gaston, der es sich nicht nehmen ließ, den populären Untersuchungsrichter selbst zu bedienen, verschwand in der Küche und kam schnell mit einem Café crème und einem warmen Croissant zurück.
    Er stellte das Frühstück schweigend vor Jacques, weil er wusste, dass der Richter morgens eher wortkarg war und nur seine Zeitung lesen wollte.
    »Blöde Kuh«, rief Jacques plötzlich zornig, warf die Zeitung auf den Stuhl neben sich und hätte dabei fast seinen Kaffee umgestoßen.
    Gaston stand an der Tür zur Straße und tat so, als schaue er unbeteiligt auf das Treiben in der Rue de Belleville.
    Das Viertel änderte sich wieder einmal.
    Madame Wu, die chinesische Engelmacherin, ging schweigend vorbei. Sie war so dick geworden, dass sie ihr Gewicht nur noch mit Hilfe zweier Krückstöcke bewegte. Trotz des warmen Wetters trug sie einen Pelzmantel, der ihr bis auf die Füße fiel.
    Es gab Probleme mit den Chinesen im Viertel. Die ersten zogen langsam weiter.
    Auf der gegenüberliegenden Seite hatte das »Cok Ming«, ein mit dem Goldenen Essstäbchen ausgezeichnetes thailändisches Lokal, schon vor einigen Monaten geschlossen, und die Räume waren immer noch nicht neu vermietet
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