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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Autoren: Ulrich Wickert
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worden.
    Belleville häutet sich wieder einmal.
    Die alteingesessenen französischen Handwerker starben aus.
    Junge Künstler, die frei werdende Werkstätten billig als Studios anmieteten, zogen auch nicht mehr in Scharen in die Gegend. Und es öffneten auch keine neuen Galerien mehr.
    Jacques wohnte gegenüber an der Place Fréhel. Seine Fenster schauten auf zwei riesige Wandgemälde an der Kreuzung Rue de Belleville und Rue Julien Lacroix. Eines von Ben. Ben Vautrier. Ein Maler aus Nizza. Auf dem Bild versuchen zwei männliche Kunstfiguren im Blaumann eine riesige Schiefertafel an dem Haus hochzuziehen. Auf der Tafel steht geschrieben: Il faut se méfier des mots – man muss sich vor den Worten hüten.
    Auf der Hauswand daneben hatte Jean Le Gac ganz realistisch auf eine zehn Meter hohe Gebäudemauer einen Detektiv gemalt. Er hockte da im Anzug, hatte auf dem Kopf einen Canotier, einen Strohhut, wie man ihn in den zwanziger Jahren trug und entzifferte mit der Lupe einen Zettel, auf dem stand, der junge Detektiv solle die Verfolgung über die Rue Julien Lacroix aufnehmen.
    Ja, Belleville häutet sich eben wieder einmal.
    Langsam wurden die letzten Maghrebiner, die in den fünfziger Jahren nach Belleville gekommen waren und ihre Couscous-Lokale eröffnet hatten, verdrängt.
    Stattdessen tummelten sich in den Straßen immer häufiger Afrikaner, die sich ohne Papiere durchschlagen mussten; die lebensgefährliche Reise hatten sie über das Mittelmeer in einer Nussschale geschafft. Sie kamen über das große Wasser auf die italienische Insel Lampedusa und kauften sich dort eine Fahrkarte nach Paris. Mit der Sprache der alten Kolonialmacht Frankreich waren sie ja aufgewachsen.
    Jacques starrte vor sich hin. »Blöde Kuh«, stieß er genervt hervor und atmete tief durch. »Blöde Kuh!«
    »Hast du das schon gelesen, was Margaux über mich schreibt?«, fragte er Gaston.
    »Ja, habe ich gelesen«, antwortete der, »aber was willst du? So sind sie eben, die Frauen, wenn sie sich getroffen fühlen. Nimm’s nicht tragisch!«
    »Sie stellt mich doch wie einen Depp dar«, erregte sich Jacques. »Schon die Überschrift: Ricous Mutation zum Lifestyle-Richter!« Er schlug den Artikel wieder auf. »Hier, lies das doch mal: ›Zu lebenslanger Haft verurteilte Richter Jacques Ricou die vierfache Mutter Anne Rampal. Sie hat ihren Mann vergiftet, um sich mit seiner Lebensversicherung ( 350 000  Euro) eine Brustvergrößerung zu leisten.‹ – Die dumme Ziege. Die weiß ganz genau, dass ich nichts mehr hasse als Mordprozesse. Ich habe genug falsche Urteile erlebt. Richter haben auch ihre Vorurteile.
    Ein Metzger wird schnell wegen Mordes verurteilt, weil er ja mit seinem Hackebeil Tiere zerlegt. Und da geht’s blutig zu. Ein Bäcker wird dagegen schnell freigesprochen, denn er gibt ›uns unser täglich Brot‹! Aber was schreibt Margaux? Ich lese es dir mal vor:
    ›Gibt es denn keine politischen Skandale mehr? Wir erinnern uns noch an Ricous glanzvolle Zeiten, als sich korrupte Politiker vor dem unbeugsamen Untersuchungsrichter fürchteten, weil er sogar den Staatspräsidenten vorgeladen hat. Das Motto von damals lautete: Man muss allen, auch den unmöglichen Spuren nachgehen. Und heute? Nichts als künstliche Brüste! Ricou ist neulich vierzig geworden. Monsieur le Juge, es ist zu früh für eine Midlife-crisis!‹ – Blöde Kuh!«
    Gaston konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
    »Es ist eben dumm, wenn man mit einer Journalistin befreundet ist und sich dann von ihr trennt.«
    »Kommt vor!«
    Jacques schaute von der Zeitung auf, sah Gaston einen Augenblick nachdenklich an und sagte: »Bring mir noch ein Croissant und einen Crème.« Nach einer winzigen Pause fügte er ein »Bitte« hinzu.
    Gaston wusste, dass Jacques’ Buttercroissant ein wenig aufgewärmt werden musste, dann schmeckte es ihm noch besser.
    »Scheißzeitung«, sagte Gaston ironisch, und Jacques musste wider Willen lachen.
    Denn als »Scheißzeitung« hatte die zickige Valérie die Illustrierte
Paris Match
bezeichnet und sich beim Chefredakteur über Fotos beschwert, die sie und den Präsidenten beim Sonntagsspaziergang im Jardin du Luxembourg zeigten. Die Schelte war besonders deswegen peinlich, weil Valérie von dieser »Scheißzeitung« immer noch ein festes Monatsgehalt als Literaturkritikerin erhielt, obwohl sie inzwischen die Erste Dame im Staate war.
    Jacques’ Telefon klingelte.
    Er schaute auf das Display. Martine Hugues, seine
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