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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod
Autoren: Lena Falkenhagen
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»Herrin?«
    Marike hielt inne. »Ja, Alheyd?«
    »Ihr sagt’s dem Herrn doch nich’?« Die Magd warf nervöse Blicke zur Dornse.
    »Nein, Alheyd, keine Sorge. Ich sag dem Herrn nichts. Sieh aber zu, dass du heute mit dem Aufräumen des Kellers vorankommst, denn morgen gehen wir vor der Bursprake noch auf den Markt.« Die Bursprake war die öffentliche Verkündigung der Ratsbeschlüsse, die von den anwesenden Bürgern üblicherweise durch Schweigen akzeptiert, selten durch Gegenrufe abgelehnt wurden. Die Magd nickte dankbar und ließ sich wieder auf ihren Schemel sinken, um kräftig auf dem Gemüse herumzuschrubben.
    Marike stellte den Bierkrug wieder auf den Tisch. Ihr Blick wanderte zur Wandmalerei, die ihr Vater, so hatte man es ihr zugetragen, damals anlässlich der Heirat mit ihrer Mutter hatte anfertigen lassen. Auf der hell geschlämmten kürzeren Seitenwand der Diele, die im hinteren Bereich durch die Wendeltreppe, im vorderen durch die Wand der Dornse verkürzt war, fanden sich backsteinrote, sonnengelbe und tannengrüne Ranken. Dazwischen, in der etwas tiefer gelegenen Bogennische, prangte eine Szene aus dem Leben der heiligen Elisabeth, der Namenspatronin von Marikes Mutter Lisbeth. Die Heilige saß neben ihrem Gemahl Ludwig zu Tisch, was vor zweihundert Jahren sicher gesellschaftlichen Anstoß verursacht hätte. Die feinen Züge der Heiligen und die ihres Gemahls fingen die der jungen Eheleute Pertzeval ein. Zwei weitere Bilder der Heiligen in den Bogennischen links und rechts davon befanden sich in nicht ganz so gutem Zustand. Links sah man die heilige Elisabeth als Mädchen beim Kirchgang, auf dem sie bereits Bier und Fisch mit ärmeren Kindern teilte, und rechts sah man die Heilige während einer Hungersnot Vorräte an die Armen verteilen.
    Wie stets machte dieses Bild Marike traurig und froh zugleich. Während es ihr das Gesicht der Verstorbenen im Gedächtnis erhielt, rief es doch gleichzeitig die Sehnsucht nach ihr wieder wach. Sie war beim Tod der Mutter erst drei Jahre alt gewesen. Auch in ihrem Vater rief das Bild wohl zwiespältige Gefühle wach. Manchmal ertappte die Tochter ihn dabei, wie er spätabends beim Schein der Herdglut versunken darauf starrte und längst vergangenen Zeiten nachhing. Obwohl bereits einige Stellen abbröckelten und das letzte Bild ganz dunkel vom Rauch des nahen Herdes war, hatte Johannes Pertzeval sich niemals dazu durchringen können, die Bilder übermalen zu lassen, die das Antlitz seiner verstorbenen Frau bewahrten. Man hatte Marike berichtet, dass ihr Vater beinahe den Verstand verloren habe, als ihm die Pest die geliebte Frau und zwei seiner Söhne geraubt hatte.
    Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Marike sich früher, als Kind, auf dem obersten Speicherboden ein kleines Reich eingerichtet, in dem sie nachts durch eine lockere Dachschindel hinauf in den hellen Sternenhimmel blicken konnte. Im Geiste war sie dort oben dann mit der Mutter und den toten Brüdern durch jenes Reich geschlendert, das in den Geschichten vorkam, die Johannes Pertzeval seinem nun einzig verbliebenen Kind ab und an erzählt hatte. Darin lebten die seligen Toten und warteten geduldig auf ihre Lieben, die noch auf Erden weilten und ihnen irgendwann, wenn der Herr es für Zeit befände, dorthin folgen würden. Marike hatte dieses Reich damals das »Winterland« getauft, denn in ihrer Vorstellung war es stets in einen wunderschönen weißen Mantel aus reinem Schnee und glitzernden Eiskristallen gehüllt, und dennoch musste niemand frieren. Dort hatte sie als Kind den Duft der Mutter riechen können, den Marike stets mit dem Kräuterduft aus den Lagergeschossen verband, und hatte den Vater endlich nicht mehr traurig gesehen, denn er blickte in jenem Land aus Schnee mit Stolz und Freude auf ihre Brüder.
    Jetzt, über zehn Jahre später, dachte Marike noch immer gerne an diese Kinderträume einer heilen Familie und eines zerbrechlichen Reiches aus Schnee und Eis zurück. Heute wusste sie, dass der Herr die Seelen der Lieben im Tode wieder vereinen würde, und dass im Paradies kein Schnee lag. Und trotzdem vermisste Marike ihre Mutter manchmal schmerzlich, denn mit dem geschäftigen und durch Alter und Schicksalsschläge kauzig gewordenen Johannes Pertzeval konnte eine junge Frau wahrhaftig nicht alle Sorgen und Freuden besprechen, die ihr am Herzen lagen.
    Dabei hatte der Vater es ihr nie an etwas mangeln lassen – da er nur noch die eine Tochter hatte, war sie schon seit früher Kindheit sein
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