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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod
Autoren: Lena Falkenhagen
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DER BISCHOFF
    »Die Folgen sind verheerend.« Bischof Arnold saß regungslos in seinem Lehnstuhl und starrte ins Leere. Eine Brise zog durch die laue Sommernacht und rührte an den Dokumenten auf seinem Schoß. Der alte Mann musste die penible lateinische Schrift seines hamburgischen Amtsbruders nicht mehr lesen. Inzwischen kannte er die Sätze auswendig, die auf dem gerade in Gebrauch gekommenen Papier niedergeschrieben standen. »Die Menschen fliehen in Scharen gen Norden.« Schließlich der letzte Satz, der das vernichtende Urteil enthielt. »Während du diese Zeilen liest, hat der Tod Lübeck vielleicht schon erreicht. Keine Mauern und kein Fluss wissen sie zu wehren. Die Pest ist über uns. Gott steh uns bei.«
    Die Dämmerung war gekommen und gegangen, ohne dass Arnold es bemerkt hatte, und nun stellte er mit milder Besorgnis fest, wie spät es bereits war. Über den Lübecker Dom und die umliegenden Straßen hatte sich nächtliche Stille herabgesenkt. Thomas käme sicher bald, um ihm den Nachttrunk zu bringen. Ihn würde der Bischof über seine Abreise in Kenntnis setzen. Vielleicht sollte er ihn auch warnen. Ja, das sollte er – Thomas war ein guter Junge. Er verdiente zu leben.
    Die Pest. Vierzehn Jahre lang hatte Gott der Herr die Hansestadt Lübeck vor ihr verschont. Doch wie es die selbstsüchtige Natur der Menschen wollte, hatte ihm niemand dafür gedankt. Selbst Arnold hatte sich so manchen Herbst bei dem lauernden Gedanken ertappt, dass ihnen diese Geißel erspart geblieben war. Nun hatte der Herr also seinen Segen von der Stadt genommen.
    Der Bischof starrte noch immer regungslos aus dem Fenster, hinaus in den schwarzen Nachthimmel. Lange Minuten vergingen, bis er am leisen Knarren der Tür bemerkte, dass Thomas die dunkle Kammer betrat. Er wandte sich nicht um.
    »So wird es also geschehen«, meinte Bischof Arnold müde, »wie Gott der Herr es in seiner Weisheit bef iehlt. ›Wenn du nicht darauf hältst, dass du alle Worte dieses Gesetzes tust, die in diesem Buch geschrieben sind, und nicht fürchtest diesen herrlichen und heiligen Namen, den HERRN, deinen Gott, so wird der HERR schrecklich mit dir umgehen und dich und deine Nachkommen schlagen mit großen und anhaltenden Plagen, mit bösen und anhaltenden Krankheiten‹, sagt das Buch Mose. Und so wird es geschehen.« Der alte Mann zerknüllte den Brief in der Faust.
    »Die Pest wird kommen, Thomas, und Lübeck wird sich selbst nicht mehr wiedererkennen. Im Angesicht des Grauens werden sich die Menschen in Ungeheuer verwandeln. Mütter werden ihre Kinder verraten. Söhne lassen die Väter mit eiternden Beulen bei lebendigem Leibe verfaulen. Und alle werden sich zu Gott kehren und heulen: Was haben wir dir getan, dass du uns so grausam strafst? Und sie werden ihn verfluchen dafür, dass sie sterben müssen.« Der Bischof verstummte, um sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel zu massieren. Weiche Schritte näherten sich auf dem orientalischen Teppich.
    »Und dann werden sie sich abwenden. Sie werden die beinahe fünfzehnhundert Jahre christlicher Zivilisation und die Lehren unseres Erlösers abstreifen wie einen alten Lumpen und sich in etwas Grässliches verwandeln«, flüsterte der Greis. »Ich habe es gesehen.«
    Neben ihm klang das Metall des Kelches sanft auf dem Holz des kleinen Rauchtischchens, als der Kräutertrunk darauf abgestellt wurde. Üblicherweise war er mit einem großen Schuss Branntwein angereichert. Heute Nacht würde Bischof Arnold allerdings mehr als nur ein Glas Hochprozentigen brauchen, um zu vergessen.
    Er empfand keine Furcht und keine Sorge, gar nichts. Nur die Bestimmtheit seines Entschlusses drang zu ihm durch. »Bald werden wir Abschied nehmen, Thomas«, sprach er matt. »Ich werde nicht ein zweites Mal mit ansehen, wie Lübeck zu einem dunklen Zerrbild seiner selbst verkommt.«
    Er schloss die müden Augen und tastete nach dem Kelch. »Im Angesicht eines solchen Bösen kann nichts Gutes mehr in einem Menschen bestehen. Die Pest befällt sein Wesen, frisst sich tief in ihn hinein und höhlt sein Innerstes aus, bis er nur noch eine leere Hülle ist. Schließlich bricht das Geschwür Mensch auf, und heraus quillt das Hässlichste seines Wesens und besudelt alles um ihn her mit seinem Eiter.« Bischof Arnold leerte den Kelch in einem Zug. Der starke Alkohol brannte auf seiner Zunge, doch ein bitterer Nachgeschmack zeigte Arnold, dass der Koch sich mal wieder nicht an das übliche Rezept gehalten hatte. »Und wer einmal von
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