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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod
Autoren: Lena Falkenhagen
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für Schimmel und, viel schlimmer, für Ratten. Doch diesen Sommer hatten die sonst so allgegenwärtigen Nager die Speicher unverhofft verschont.
    Vorbei an dem Hausbaum und dem Schacht für die Seilwinde, über die die Lasten hochgezogen wurden, ging Marike zur Wendeltreppe. Sie führte hinab in die Diele, in der sich das tägliche Leben der Bewohner des Backsteinhauses abspielte. Durch die kleinen Doppelluken an der Stirnseite des Backsteinhauses drang gedämpftes Geratter von Rädern auf dem Pflaster herein. Draußen auf der Straße nach Sankt Johannis begann der morgendliche Alltag. Marike hörte Stimmen von Fuhrleuten, Hühner gackerten aufgeregt, wenn sie von der Straße vertrieben wurden, und ein Platschen verriet, dass jemand einen Abfalleimer in die Gosse geleert hatte. Die Frauen und Kinder der Handwerker zogen auf den Markt, um die Waren ihrer Ehemänner und Väter feilzubieten. Lübeck erwachte zu einem neuen Tag.
    Marike trat die knarrenden Stufen hinab in den großen Dielenraum. Hier schrubbte die Magd Alheyd nahe dem Herd Gemüse. Sie hatte Ärmel und Rock über die Gelenke gerafft, um ihre Kleider nicht nass werden zu lassen, während sie die Steckrüben und Wurzeln für den heutigen Eintopf wusch. Marike hatte das Gesinde angewiesen, unter der Woche noch schlichter zu kochen als sonst, worüber Alheyd nicht glücklich war. Doch da man die Magd, deren Gesicht ein wenig an ein Pferd erinnerte, selten fröhlich oder zufrieden sah, machte das keinen großen Unterschied. Die Dienstmagd warf dem Mädchen unter dem strähnigen Haar stumm einen leidenden Blick zu.
    »Guten Morgen!«, verkündete Marike fröhlich und ignorierte die Laune der ungnädigen Frau. Dann ging sie zu dem breiten Tisch in der Mitte der Diele, wo ein Schinken in ein Leinentuch eingeschlagen neben einem angebrochenen Laib Brot und dem hohen schmalen Krug mit Bier lag. Das Mädchen brach sich von dem Brot ein großes Stück ab und sog kurz den Duft ein, bevor sie hineinbiss und danach den Krug an die Lippen setzte, um den Bissen mit einem Schluck dünnen Biers herunterzuspülen. Schließlich schnitt sie sich eine dicke Scheibe Schinken ab und stellte dabei fest, dass sich dieser seit gestern mehr als halbiert hatte.
    »Frederik und Hinrich waren hungrig, wie?« Marike wies auf den Schinken.
    Die Magd zuckte mit den Achseln und sah vorsichtig auf. »Schätze schon.« Frederik und Hinrich waren momentan die beiden einzigen verbliebenen Knechte im Haus der Pertzevals. Ein Teil der Leute war mit Brunow und den Schiffen gen Schonen unterwegs, und Marike und ihr Vater benötigten nicht viel Gesinde. Frederik war ein jüngerer Geselle ihres Vaters, der vor Ort beim Führen der Geschäfte half. Der ernste und etwas umständliche Mann erfüllte diese Aufgabe mit großer Sorgfalt. Dann war da der Knecht Hinrich, der sich um die groben Dinge des Haushalts kümmerte. Er war kaum älter als Marike selbst, aber so groß und kräftig wie ein Baum. Man konnte ihn nicht gerade eifrig nennen, doch er erfüllte seine Aufgaben stets zuverlässig. Alheyd schließlich kochte und schrubbte und half Marike wenn nötig bei Haar und Gewändern.
    Alheyd wand sich unter dem Schweigen ihrer jungen Brotherrin, während sie nervöse Blicke zur Dornse warf. Diese Schreibkammer des Herrn war durch Zwischenwände vom Dielenraum abgetrennt und lag neben der Tür zur Straße. Marike verstand. Die ganze Stadt bebte vor Furcht vor der Pest. Aus den südlichen Städten wie Magdeburg, Braunschweig und Hannover hörte man, dass die Menschen dort starben wie die Fliegen. Und es hielt sich hartnäckig das Gerücht, Reiche würden dank guten Essens weniger schnell an der Pest sterben als Arme. Daher schlug sich das Gesinde die Bäuche voll. Deshalb murrte Alheyd über die einfache Kost, die im Haus Pertzeval angeordnet war.
    Marike schüttelte bedrückt den Kopf. »Alheyd, ein Stück Schinken entscheidet nicht darüber, wer lebt und wer stirbt.« Die Angesprochene nickte wenig überzeugt.
    Marike wies auf das Wandbild ihrer toten Mutter, und da bekreuzigte sich die Magd und senkte den Blick. »Der Herrgott entscheidet darüber. Und wir Sterblichen können das Unsrige tun, indem wir ein Leben ohne Sünden führen. Nur wer ohne Sünde ist, muss den Zorn des Herrn nicht fürchten. Das weißt du doch?«
    »Ja, jung’ Herrin«, flüsterte Alheyd. »Tut mir leid, jung’ Herrin.«
    Marike lächelte. »In Ordnung.« Sie wollte schon gehen, doch die Magd sprang hastig auf.
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