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Totennacht (German Edition)

Totennacht (German Edition)

Titel: Totennacht (German Edition)
Autoren: Todd Ritter
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    20. Juli 1969
    Es war das Baby, das sie weckte. Nicht ihr Mann. Nicht die Polizei. Nur das Baby und sein Schreien.
    Maggie hatte sich daran gewöhnt. Bei zwei Kindern blieb das nicht aus. Es kam vor, dass sie ungestört weiterschlief. Nicht so in dieser Nacht. Das Schreien klang diesmal anders. Es war nicht das Quengeln eines übermüdeten oder zahnenden Kindes, sondern ein Schreien aus Angst, wie Maggie erkannte. Es holte sie aus dem Schlaf und aus dem Bett.
    Ihr verschlafener Blick streifte den Wecker auf der Nachtkonsole. Es war fast elf. Sie hatte über drei Stunden geschlafen. Nicht so schlecht wie an anderen Tagen, aber auch nicht besonders gut. Überhaupt nicht gut. Trotz der kleinen Verschnaufpause fühlte sie sich hundemüde, als sie durch den Korridor in Richtung Kinderzimmer tappte. Immer noch völlig ausgelaugt.
    Im Kinderzimmer schaltete sie die Deckenlampe ein. Grelles Licht stach in ihre schlaftrunkenen Augen. Egal. Sie fand sich auch mit geschlossenen Augen in dem Zimmer zurecht. Rechts stand der Schaukelstuhl, links die Kommode. Vorsicht, Spielzeugkiste. Als sie die Wiege erreichte, öffnete sie die Augen.
    Die Wiege war leer.
    Das Geschrei aber ließ nicht nach.
    Es war laut und angsterfüllt. Maggie drehte sich im Kreis und suchte nach einer Erklärung. War der Kleine etwa aus dem Bettchen gefallen und in irgendeine Ecke gekrochen? Unter den Schrank? In ein anderes Zimmer?
    Maggie war plötzlich hellwach und registrierte, dass die Schreie gar nicht aus dem Kinderzimmer kamen, sondern von unten, und jetzt klang das Geschrei noch drängender, noch ängstlicher.
    Sie eilte die Treppe hinunter und erwartete, ihren Mann im Wohnzimmer anzutreffen, mit La-Z-Boy in den Armen. Aber im Sessel saß Ruth Clark, die sichtlich Mühe hatte, das zappelnde Kind festzuhalten.
    Ruth war sechzig Jahre alt, sah aber aus wie siebzig und wohnte ein paar Häuser weiter unten an der Straße. Sie und Maggie waren zwar befreundet, aber beileibe nicht so eng, dass sie spätabends herüberkam, um den Kleinen zu wiegen. Und doch saß sie da im fahlen Widerschein des Fernsehers und versuchte, das Kind zu beruhigen.
    «Ruth? Was ist los?» Verwirrt blinzelte Maggie mit den Augen und bemerkte, dass die Nachbarin ein Nachthemd trug, eine verschlissene Hose und Flip-Flops an den Füßen. Sie hatte sich auf die Schnelle angezogen. «Wo ist Ken?»
    «Du warst schon im Bett», antwortete Ruth mit gezwungenem Lächeln. «Deshalb hat er mich gebeten, auf den Kleinen aufzupassen. Er musste noch mal kurz weg.»
    «Warum?»
    Ruth blieb still und drückte Maggie den Kleinen in die Arme. Er war bis über das Gesicht in eine Decke gewickelt. Ob Ken ihn so eingepackt hatte oder Ruth, wusste Maggie nicht. Jedenfalls war es keine gute Idee gewesen. La-Z-Boy musste schrecklich schwitzen. Wahrscheinlich schrie er deshalb.
    Er wurde auch gleich ruhiger, als sich Maggie mit ihm aufs Sofa setzte und die Decke ein wenig löste. Ruth nahm neben ihr Platz, unangenehm dichtauf. Geradezu aufdringlich, wie Maggie fand. Und wachsam.
    «Hat Ken gesagt, wohin er wollte?»
    Ruths Antwort – «Nein, das hat er nicht» – kam übereilt und klang wenig überzeugend.
    «Und wann wird er wieder zurück sein?»
    «Bald.»
    «Ich werde auf ihn warten. Du musst nicht länger bleiben.»
    «Das sollte ich aber.»
    Maggie war zu müde, um Einspruch zu erheben. Es hätte wohl auch nichts genutzt. Ruths Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie bleiben würde. Weil sie nichts mehr zu sagen wusste, starrte Maggie auf den Fernseher.
    Was sie sah, verwunderte sie.
    Ein grobkörniges Flimmern füllte den Bildschirm – sprudelnde Flecken, schwarz und grau. Dann zeichneten sich Umrisse ab, die einer Gestalt in klobiger Uniform, gespenstisch vor unendlich schwarzer Kulisse. Die Gestalt stand auf einer Leiter und hüpfte Sprosse für Sprosse herab.
    Schließlich setzte sie einen Fuß auf den Boden. Und sprach.
    «Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Schritt für die Menschheit.»
    «Gütiger Himmel», sagte Ruth. «Er hat’s tatsächlich geschafft.»
    Es war Neil Armstrong. Auf dem Mond. Ruth hatte recht. Der Astronaut stand auf der Mondoberfläche, so selbstverständlich, wie Maggie in ihrem Wohnzimmer saß.
    Den Blick auf den Fernseher gerichtet, dachte sie unwillkürlich an Charlie. Neun Jahre älter als das Baby, war er seit Monaten von der Raumfahrt fasziniert. Als Apollo 11 am Nachmittag auf dem Mond gelandet war,
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