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Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Autoren: M. L. Stedman
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Stimme erstarb.
    »Ich weiß, dass Sie in letzter Zeit viel aushalten mussten. Ihr Glück, dass Sie mich beworfen haben und nicht Sergeant Spragg.« Bei diesem Gedanken musste er ein wenig schmunzeln.
    »Ich hätte nicht so mit Ihnen sprechen dürfen.«
    »Menschen tun das eben manchmal. Menschen, die weniger ertragen mussten als Sie. Wir haben uns nicht immer voll im Griff. Andernfalls wäre ich arbeitslos.« Er griff nach seiner Mütze. »Ich lasse Sie jetzt in Ruhe. Denken Sie in Ruhe über alles nach. Allerdings haben wir nicht mehr viel Zeit. Wenn der Magistrat kommt, schickt er die beiden nach Albany, und dann kann ich nichts mehr für sie tun.«
    Er trat aus der Tür ins grelle Licht der Sonne hinaus, die die letzten Wolken im Osten vertrieb.
    Hannah holte Kehrblech und Besen. Sie bewegte sich ganz automatisch, als sie die Scherben auffegte und gründlich Ausschau nach übersehenen Splittern hielt. Dann brachte sie das Kehrblech in die Küche, kippte den Inhalt auf eine alte Zeitung, wickelte das Glas ordentlich ein und warf es draußen in die Mülltonne. Dabei fiel ihr die Geschichte ein, wie Gott Abraham bis an seine Grenzen geprüft hatte, um festzustellen, ob er auch das opfern würde, was ihm das Liebste auf der Welt war. Erst als das Messer über dem Hals des Kindes schwebte, hatte Gott ihn angewiesen, stattdessen ein geringeres Opfer zu bringen. Ihre Tochter war ihr geblieben.
    Sie wollte schon wieder ins Haus gehen, als ihr Blick auf den Stachelbeerbusch fiel, und sie erinnerte sich an den schrecklichen Tag nach Graces Rückkehr, als ihre Tochter sich dahinter versteckt hatte. Schluchzend sank sie im Gras auf die Knie und hatte dabei ein Gespräch mit Frank im Ohr. »Aber wie machst du das, dass du alles im Leben so einfach wegsteckst, Liebling?«, hatte sie ihn gefragt. »Du hast so viel Pech gehabt und bist trotzdem immer glücklich. Wie stellst du das an?«
    »Ich entscheide mich dafür«, erwiderte er. »Ich kann entweder in der Vergangenheit verrotten und wie mein Vater meine Zeit damit verbringen, die Menschen für das zu hassen, was sie mir angetan haben. Oder ich kann verzeihen und vergessen.«
    »So einfach ist das nicht.«
    Darauf hatte er wie immer gelächelt. »Oh, aber es ist so viel weniger anstrengend, mein Schatz. Vergessen muss man nur einmal . Doch hassen muss man den ganzen Tag und am nächsten Tag aufs Neue. Man muss sich all die Schlechtigkeiten merken.« Er lachte und tat so, als wische er sich den Schweiß von der Stirn. »Ich müsste eine Liste machen, eine sehr, sehr lange Liste, und sichergehen, dass ich jeden, der darauf steht, auch gebührend hasse. Bei uns Teutonen muss auch das Hassen seine Ordnung haben! Nein.« Sein Tonfall wurde ernst. »Wir haben immer die Wahl. Wir alle.«
    Nun lag Hannah bäuchlings im Gras und spürte, wie die heiße Sonne ihr die Kraft raubte. In ihrer Erschöpfung nahm sie die Bienen und den Duft des Löwenzahns ringsherum genauso wenig wahr wie den Sauerklee unter ihren Fingern, der das Gras überwucherte. Schließlich schlief sie ein.
    Tom spürt noch immer Isabels nasse Haut an seiner, obwohl die Zelle inzwischen aufgewischt ist und er trockene Kleidung trägt. Sein Wiedersehen mit ihr am Abend zuvor ist nur noch Erinnerung, und er wünscht sich gleichzeitig, sie möge echt und dennoch lediglich ein Trugbild sein. Wenn sie echt ist, ist seine Izzy zu ihm zurückgekehrt, wie er es in seinen Gebeten erfleht hat. Handelt es sich jedoch um ein Trugbild, droht ihr kein Gefängnis. Erleichterung und Grauen mischen sich in ihm, und er fragt sich, ob er sie wohl je wieder berühren wird.
    »Oh, Bill, ich weiß nicht mehr, was ich denken oder tun soll …« Violet schluchzt in ihrem Schlafzimmer auf. »Unser kleines Mädchen könnte ins Gefängnis kommen. Ach, wie entsetzlich.«
    »Wir werden das durchstehen, Liebling. Und sie wird es auch irgendwie schaffen.« Sein Gespräch mit Vernon Knuckey erwähnt er nicht, weil er ihr keine falschen Hoffnungen machen will. Aber vielleicht gibt es ja noch den Hauch einer Chance.
    Isabel sitzt allein unter dem Palisanderbaum. Ihre Trauer um Lucy ist so stark wie eh und je: ein Schmerz, der keinen festen Ort hat und für den es keine Heilung gibt. Sich der Bürde der Lüge zu entledigen, hat auch bedeutet, die Freiheit zu opfern, die der Traum ihr eröffnet hat. Die leidvolle Miene ihrer Mutter, der gekränkte Augenausdruck ihres Vaters, Lucys Verzweiflung, Tom in Handschellen. Sie versucht, die Bilder, die auf sie
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