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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben
Autoren: Marina Lewycka
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einen Handel ausmachen - dänische Butter und Speck gegen Selbstregierung. Und sie weigerten sich, ihre Juden auszuliefern. »Juden oder Christen, wir sind alle Dänen«, sagten sie.
    Trotz der Einigung gab es wenig aktive Unterstützung für die Nazis, und im Jahr 1943 begann der Handel zu bröckeln. Die Nazis trafen geheime Vorbereitungen, alle siebentausend dänischen Juden festzunehmen und zu vernichten. Chaim lächelte. »Sie dachten, ihre >Endlösung< wäre nicht erreicht, solange diese unverschämten dänischen Juden völlig ungeschoren herumspazierten.«
    Tatsächlich war es ein deutscher Attache, der den Deportationsplan der Nazis vereitelte, indem er die Details an einen dänischen Politiker weitergab. Was eine schnelle und heimliche Operation werden sollte, scheiterte, weil sich das dänische Volk schlicht und einfach dagegenstellte. Nein, sagten sie. Nicht hier in Dänemark. Nicht mit
unseren
Juden.
    Kaum hatte sich der Plan herumgesprochen, boten Freunde, Nachbarn und Kollegen spontan und unorganisiert Hilfe an und sorgten für Geld, Transport und Verstecke. Die Dänen wollten nichts zu schaffen haben mit dem Greuel, der den Rest Europas beschmutzte. Es war der Direktor von Naomis Schule, ein Lutheraner, der am Abend des 29. September bei ihr zu Hause klingelte und sie warnte, dass zwei Passagierschiffe im Hafen lagen mit dem Befehl, fünftausend dänische Juden wegzuschaffen - sie sollten am 1. Oktober auslaufen. Er riet ihr, zum Bispebjerg-Krankenhaus zu gehen, wo ein Versteck eingerichtet worden war.
    Naomi und ihr alter Vater packten alles, was sie mitnehmen konnten, in einen Koffer und machten sich auf den Weg zum Krankenhaus. Dort fanden sie ein ruhiges Eckchen in der psychiatrischen Station und sahen mit wachsender Beklommenheit zu, wie immer mehr Kopenhagener Juden eintrafen, einzeln und in Gruppen, erschrocken, ängstlich, mit Pappkoffern, in denen sie ihre wertvollsten Besitztümer mit sich trugen. Am Ende drängten sich über zweitausend Menschen in der psychiatrischen Station, den Schwesternunterkünften und überall sonst, wo sich ein Plätzchen fand. Geheimhaltung war unmöglich, aber auch nicht nötig - im Krankenhaus waren vom Direktor bis zum Pfleger alle eingeweiht. Ärzte und Schwestern kümmerten sich um die Flüchtlinge, versorgten sie mit Essen aus der Krankenhausküche, und bald wurde auch von den Anwohnern Essen und Geld gespendet.
    Andere Juden, darunter Naomis Brüder, wurden in Kirchen, Schulen,
    Bibliotheken und vielen Privathäusern von ihren Nachbarn versteckt. In den Feriendörfern entlang den Küsten im Norden richteten Gruppen von Unterstützern Unterkünfte für Juden ein, die auf ein Boot und die richtigen Wetterbedingungen warteten, um ins neutrale Schweden zu fliehen. Selbst die Küstenwache war beteiligt.
    Mit zwölf anderen in den stinkenden Laderaum eines Fischkutters gepfercht, schafften Naomi und ihr Vater am 3. Oktober 1943 die kurze Überfahrt nach Schweden. Unterwegs wurden sie von einer deutschen Patrouille angehalten, doch der Fischer schmauchte einfältig seine Pfeife und bot den Deutschen ein paar Heringe an, während unter der Luke, auf der er stand, seine Passagiere den Atem anhielten. Der Fischer war stolz auf das Abenteuer und ließ sich im schwedischen Hafen mit seiner erleichterten menschlichen Fracht fotografieren, bevor er wieder auslief, um die nächste Ladung abzuholen.
    »Ich habe das Foto noch«, sagte Chaim. »Ich zeige es Ihnen irgendwann.«
    In Schweden wimmelte es von Flüchtlingen, und alle redeten von Widerstand,
    Freiheit, einem internationalen Bund der Juden, Sicherheit und Zion. In einem Flüchtlingslager in Göteborg traf Naomi ihre Brüder wieder. Auch wenn sie Zionisten waren, hatten sie sich mit einem jungen sozialistischen Bundisten aus Weißrussland angefreundet. Sein Name war Artem Shapiro. »War es Liebe auf den ersten Blick?«
    Chaim grinst. Er hat einen kleinen Milchschaumschnurrbart von seinem Cappuccino. »Keine Ahnung. Ich war nicht dabei.«
    Von über siebentausend Juden in Dänemark erwischten die Nazis weniger als fünfhundert, und selbst von diesen überlebten die meisten in Theresienstadt, denn die dänischen Behörden schickten Lebensmittel und Medikamente für sie. Die Juden, die nach Kriegsende nach Dänemark zurückkehrten, fanden ihre Häuser unversehrt und behütet, die Gärten gepflegt und selbst die Hunde und Katzen gesund und gefüttert.
    Ich weiß nicht, warum ich gerade beim Gedanken an die gut gefütterten
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