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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben
Autoren: Marina Lewycka
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Ende. Doch als er sprach, klang er traurig, nicht gereizt.
    »Das war Tatis Generation. Zion war ihr großer Traum. Und es war ein guter Traum. Aber sie mussten feststellen, dass sich mit Waffen keine Träume verwirklichen lassen. Nur Alpträume. Beantwortet das deine Frage?«
    Ich schwieg. Ja und nein.
    »Ich hätte gedacht, die Juden wären ... na ja, nach all dem Leid ... sie hätten mehr Mitgefühl.«
    »Warum sollte eigenes Leid Mitgefühl für andere hervorbringen? So funktioniert das nicht, Georgia. Kinder, die Gewalt erfahren haben, werden später oft selbst gewalttätig. Das haben sie gelernt.«
    »Mhm. Aber ...«
    »Und wenn du denkst, dass du ein Opfer bist, oder auch nur ein potenzielles Opfer - ist das nicht eine Art Rechtfertigung? Du kannst so viele Leute umbringen, wie du willst.«
    Doch wir hatten Carole Benthorpe nicht gequält, weil wir selbst gequält worden waren, wollte ich einwenden. Wir taten es, weil wir glaubten, dass etwas - etwas, das höher war als wir - uns das Recht dazu gab.
    »Es ist wie beim Kleben, Georgia. Der Artikel, den du redigiert hast. Die Haftung der Oberflächen wird erhöht, wenn sie vor dem Kleben aufgeraut werden. Genau wie bei gewalttätigen Beziehungen. Es ist die gegenseitige Schädigung, die beide zusammenhält.«
    Ich hatte ihn noch nie mit solcher Leidenschaft reden hören. Schwul. Wie schade!
     
    Auch nachdem ich aufgelegt hatte, ging mir unser Gespräch nicht aus dem Kopf. Doch in Kippax hatten wir keine Mauer, dachte ich. Als der Streik zu Ende war, war die Gemeinde geteilt, und jeder spürte die Bitterkeit von Verrat und Niederlage. Man redete schlecht über die Nachbarn, warf mit Spott und Steinen um sich, Autos wurden zerkratzt, Betrunkene und Kinder fingen Prügeleien an. Doch das Leben ging weiter. Wir mussten in dieselben Schulen gehen, in denselben Läden einkaufen, Seite an Seite beim Arzt im Wartezimmer sitzen - und nach einer Weile verwandelte sich die Gewohnheit des Zusammenlebens langsam in Frieden. Und irgendwann wuchs eine Generation heran, die sich nicht mehr daran erinnerte, worum es bei dem Konflikt überhaupt gegangen war. Vielleicht war Vergebung am Ende gar keine so große Sache. Vielleicht war es nur eine Frage der Gewohnheit.
     
    Später, als ich mich mit einer Tasse Tee und einem Stück dänischem Plunder hinsetzte, fiel mir noch etwas ein, das ich Chaim hatte fragen wollen: Dänisch.
Sie
war Dänin gewesen. Ich wusste nichts von Dänemark, ich kannte nur das Plundergebäck. Und Hamlet natürlich. Warum war sie aus Dänemark weggegangen? Was war dort im Krieg passiert? Beim nächsten Mal würde ich ihn fragen.
    Am Ende war das Fest weder musikalische Soiree noch Gartenparty, sondern ein Barbecue. Es war Ismaels und Nabils Idee gewesen, und sie waren so begeistert davon, dass es keiner übers Herz brachte zu widersprechen, obwohl ich die Kombination aus angekohltem halbrohem Fleisch, den Bazillen aus Mrs. Shapiros Küche und dem Grillanzünder für potenziell tödlich hielt. Jedenfalls bauten sie vor dem Haus einen Grill aus übrig gebliebenen Ziegelsteinen und ein paar Metallrosten aus einem alten Ofen, den Mrs. Shapiro in einem Container entdeckt hatte. Sie besorgten riesige Mengen billiger Halal-Lammkoteletts und Chickenwings bei einem Metzger in der Dalston Lane, und Mrs. Shapiro förderte aus der Tiefe des Kühlschranks ein paar farblose Tiefkühlhamburger unbekannter Herkunft zutage. Ich nahm mir vor, Letztere zu meiden.
    Ich bat Mr. Ali, auch seine Frau mitzubringen, doch anscheinend lehnte sie dankend ab, sobald sie hörte, dass Ismael und Nabil beteiligt waren.
    »Machen ihr Kopfschmerzen«, erklärte Mr. Ali.
    Trotzdem schickte sie eine riesige Schüssel Hummus, mit Olivenöl und frischem Koriander.
    »Was ist das denn?« Mrs. Shapiro steckte mit gerümpfter Nase den Finger hinein, doch als sie ihn ableckte, sah ich, wie sich ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
    Barbecue und Baumarkt haben vieles gemeinsam, und vielleicht werden deshalb viele Männer beim Grillen plötzlich von der Lust zum Kochen gepackt. Rip würde es Synergie nennen.
    Irgendwann drängten sich alle vier um den qualmenden Grill - Chaim, Mr. Ali, Ismael und Nabil - und pusteten und wedelten, um das Feuer in Gang zu kriegen. Ismael und Nabil wechselten sich mit dem Grillanzünder ab, den sie auf die schwelenden Kohlen spritzten, und sprangen dann kreischend vor Lachen zurück, wenn die Flammen aufloderten. Sie schafften es sogar, sich selbst
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