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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben
Autoren: Marina Lewycka
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Sprungfedern stand, in den sie bereits einige der Bücher meines Mannes gepackt hatte. »Die Bücher können Sie auch mitnehmen.«
    »Haben Sie sie alle gelesen?«, fragte sie, als wollte sie mich über meine barbarischen Tendenzen verhören. »Alle.«
    »Dann ist ja gut. Danke.«
    »Ich bin Georgie. Georgie Sinclair.«
    Sie nickte steif, ohne etwas zu sagen.
    »Ich wohne noch nicht lange hier. Wir sind erst vor einem Jahr aus Leeds hier hergezogen.«
    Da hob sie eine behandschuhte Hand - zwischen den Fingern waren Löcher - wie eine verschrobene Monarchin, die eine Untertanin grüßte. »Mrs. Naomi Shapiro.«
    Ich half ihr, die Platten von der Straße einzusammeln und sie auf die Bücher zu laden. Armes altes Ding, dachte ich, hat Pech gehabt im Leben und karrt ihren weltlichen Besitz in einem alten Kinderwagen durch die Gegend. Sie schob ihren Wagen die Straße hinunter und wackelte auf hohen Absätzen davon. Selbst in der kalten Luft konnte ich sie riechen, stechend und streng wie reifer Käse. Als sie ein paar Meter gegangen war, entdeckte ich den weißen Kater wieder, denselben räudigen Rowdy mit den drei schwarzen Socken wie neulich. Jetzt kam er aus dem Dickicht im Nachbargarten und folgte ihr die Straße hinunter, indem er sich von Deckung zu Deckung stahl. Dann sah ich, dass da eine ganze Kohorte schattenhafter Katzen war, die an Mauern und unter Büschen entlangglitt und der alten Frau folgte. Ich stand da und sah ihr nach, bis sie um eine Ecke bog und verschwand, die Königin der Katzen. Im nächsten Moment hatte ich sie vergessen. Ich hatte andere Probleme.
    Von der Straße aus konnte ich sehen, dass in Bens Zimmer noch Licht brannte und sein Computer flimmerte, während er durchs Web surfte. Ben, mein kleiner Junge, der inzwischen sechzehn war, ein vollwertiger Bürger der web-weiten Welt.
    »Ich bin ein Cyber-Kid, Mama. Ich bin mit Hypertext aufgewachsen«, hatte er einmal zu mir gesagt, als ich mich beschwerte, dass er zu viel Zeit online verbrachte. Das Lichtfenster blinkte blau, dann rot, dann grün. In welchen Gewässern war er heute unterwegs? Was bekam er zu sehen? So spät. Allein. Ich spürte einen Stich im Herzen - mein sanfter, etwas zu ernster Ben. Wie konnten zwei Kinder derselben Eltern so unterschiedlich werden? Seine Schwester Stella, die zwanzig war, hatte das Leben an den Hörnern gepackt, zu Boden gerungen und brachte ihm bei, ihr aus der Hand zu fressen (zusammen mit einer wechselnden Menage hoffnungsvoller junger Männer), in einer Wohngemeinschaft in einem Häuschen in der Nähe der Durham University, wo, immer wenn ich anrief, eine Party im Gange zu sein schien oder im Hintergrund eine Rockband probte.
    Im oberen Fenster blinkte das bunte Rechteck noch einmal auf, dann erlosch es. Schlafenszeit. Ich ging ins Haus und schrieb meinem Mann einen kurzen Zettel mit der Bitte, seinen Müll abzuholen, schob ihn in einen Umschlag und klebte eine Briefmarke auf. Gleich am nächsten Morgen würde ich die Entsorgungsfirma anrufen, damit sie den Container abholte.
     
    Lassen Sie mich erklären, warum ich die Sachen meines Mannes in einen Container geworfen hatte - dann können Sie selbst urteilen, wessen Schuld es war. Eines Morgens in der Küche. Es herrscht die übliche Eile, Rip muss ins Büro, Ben in die Schule. Rip drückt auf seinem BlackBerry herum. Ich mache Kaffee, schäume Milch auf und lasse den Toast anbrennen. Rauch und Dampf und frühmorgendliche Hektik schwängern die Luft. Im Radio laufen die Nachrichten. Ben poltert oben in seinem Zimmer herum.
     
    Ich: Ich habe einen neuen Zahnbürstenhalter fürs Bad gekauft. Meinst du, du könntest ihn irgendwann an der Wand festmachen? Er: (Schweigen.)
    Ich: Er ist sehr schön. Weißes Porzellan. So eine Art dänisches Design. Er: Was?
    Ich: Der Zahnbürstenhalter.
    Er: Wovon zum Henker redest du, Georgie?
    Ich: Von dem Zahnbürstenhalter. Er muss an der Wand angebracht werden. Im Bad. (Ein Hauch von hilfloser Einfalt in meiner Stimme.) Ich glaube, es ist ein Fall für Akutbohrer und Dübel.
    Er: (Ein tiefer männlicher Seufzer.) Manche von uns versuchen auf der Welt etwas zu bewirken, wichtige Dinge, Georgie. Dinge, die die Entwicklung der Menschheit vorantreiben und dazu beitragen, die Zukunft kommender Generationen zu gestalten, verstehst du? Und du quatschst hier von Zahnbürsten.
     
    Ich kann nicht erklären, was in diesem Moment über mich kam. Mein Arm zuckte, und plötzlich war alles voller Milchschaumflocken - die Wände, er,
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