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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben
Autoren: Marina Lewycka
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Schuhe im Hausflur - ich gab ihnen jedes Mal im Vorbeigehen einen Tritt -, die Kleider im Schrank - sie rochen immer noch schwach nach ihm -, die alten Ausgaben des
Economist
und
New Statesman,
die sich an der Wand stapelten, die Aktenschränke, die fast platzten vor Zukunftsentwicklung. Sogar eine gebrauchte Unterhose hatte er im Wäschekorb gelassen. Was stellte er sich vor - sollte ich sie rausfischen und waschen?
    Ich wollte nicht, dass er mit seinem abgelegten alten Zeug mein neues unabhängiges Leben verstopfte. Ich werde es überstehen, redete ich mir ein. Ich komme drüber weg. Ich lerne einen anderen kennen. Und nur um mich zu überzeugen, dass ich es ernst meinte, hatte ich den Container bestellt. Vielleicht hätte ich alles zu Oxfam bringen sollen, aber ich hatte kein Auto und es schien so kompliziert. Und außerdem, wäre ich zu Oxfam gegangen, wäre diese Geschichte vielleicht nie geschrieben worden, weil es der Container war, der mich und Mrs. Shapiro zusammenführte.
     
    Etwa eine Stunde, nachdem der Container weg war, klingelte es an der Tür. Jetzt schon! Ich stand wie angewurzelt da, gelähmt von der Ungeheuerlichkeit dessen, was ich getan hatte. Es klingelte wieder, länger diesmal, drängender, mit der unmissverständlichen Botschaft: Ich weiß, dass du da bist. Nein, am besten machte ich einfach nicht auf. Aber was, wenn er mich durchs Fenster sah? Vielleicht sollte ich die Schuhe ausziehen und mich leise nach oben schleichen. Und wenn er durch den Briefkastenschlitz spähte und sah, wie ich die Treppe hochschlich? Wenn er durchs Fenster meine Silhouette sah? Auf Zehenspitzen ging ich in den Flur, legte mich auf den Boden, wo ich durch kein Fenster zu sehen war, und hielt die Luft an.
    Es klingelte wieder und wieder und wieder. Anscheinend hatte er sich nicht täuschen lassen. Dann klapperte der Briefkastenschlitz. Dann war es still. Als ich so auf dem Boden lag und an die Decke sah, während das Licht allmählich schwächer wurde, spürte ich, dass sich mein Herzschlag beruhigte und mein Atem langsamer wurde. Irgendwann ging mir ein Lied durch den Kopf.
    »Did you think I'd lay down and die?
Oh no, not I! I will
survive!«
Du dachtest, ich lege mich hin und sterbe? Oh nein, nicht ich. Ich überlebe.
Gloria Gaynor. Eins der Lieblingslieder meiner Mutter. Wie ging es noch mal? »
At first I was afraid, I was petrified.« Zuerst hatte ich Angst, ich war wie gelähmt.
Ich fing an zu singen.
»I
didn 't know
ifI
could dada dada without you by my side ... dada change the locks
...I
will survive!«
Den größten Teil des Texts hatte ich vergessen, aber den Refrain wusste ich:
»I
will survive! I will survive!«,
grölte ich aus voller Kehle. Ich überlebe.
    So fand mich Ben, als er aus der Schule kam, auf dem Boden liegend und lauthals singend. Er hatte die Tür so leise aufgeschlossen, dass ich ihn nicht gehört hatte; dann schlug ich die Augen auf und sah, wie er zu mir herunterblickte. »Geht's dir nicht gut, Mum?«, fragte er besorgt.
    »Doch, natürlich, Schätzchen. Das war nur ... ein kleines musikalisches Intermezzo.«
    Ich rappelte mich auf und sah aus dem Fenster. Die Straße war leer. Es regnete wieder. Bis auf ein paar schwarze Vinylscherben auf der Straße sah alles aus, als hätte es nie einen Container gegeben. Dann sah ich eine Broschüre auf der Fußmatte liegen. Ben hob sie neugierig auf.
Der Wachtturm. Wacht und betet allezeit, denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.
    »Was ist das denn?«
    »Das ist die Zeitschrift der Zeugen Jehovas. Es geht um das Ende der Welt, wenn Jesus zurückkehrt und alle wahren Gläubigen in den Himmel geholt werden.«
    »Hm.« Er blätterte sie durch, und zu meiner Überraschung steckte er sie ein und stapfte damit die Treppe hinauf in sein Zimmer.
    Wie schade. Ein tröstendes Gespräch mit ein paar netten Zeugen Jehovas hätte mir gutgetan.
     
    Als Ben und ich uns zum Abendessen hinsetzen wollten, klingelte es wieder. Ben ging an die Tür. »Hallo, Dad.«
    »Hallo, Ben. Ist deine Mutter da?«
    Diesmal konnte ich mich nicht verstecken. Ich musste ihm über dem Tisch ins Auge sehen. Das Muskelpaket war bei ihm. Beide trugen Jogginganzüge. Sie mussten den ganzen Weg von Islington gelaufen sein. Ich roch ihren Schweiß. Die ganze Küche stank nach Pheromonen, und sofort verspürte ich einen demütigenden Anflug von Lust - meine treulosen Hormone ließen mich im Stich, gerade als ich dachte, ich würde mein Leben langsam wieder in den Griff
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