Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben
Autoren: Marina Lewycka
Vom Netzwerk:
und dehnte den vorletzten Vokal. Georgiene! »Guten Tag, Darlink!« »Schön, Sie zu sehen, Mrs. Shapiro.«
    Ich beugte mich zu ihr und gab ihr ein Küsschen auf jede Wange. Im engen Supermarktgang roch sie reif und furzig wie alter Käse gemischt mit einem Hauch von Chanel No. 5. Ich sah die Gesichter der anderen Kunden, als sie zurückwichen, um sie durchzulassen. Sie hielten sie für eine Obdachlose, eine Spinnerin. Sie konnten nicht wissen, dass sie Bücher sammelte und große russische Komponisten hörte.
    »Jede Menge schöne Schnäppchen heute, Darlink!« Mrs. Shapiro war ganz atemlos vor Aufregung. »In einer Sekunde der volle Preis, in der nächsten die Hälfte - gleiche Ware, kein Unterschied. Schmeckt immer besser, wenn man weniger bezahlt, nich wahr?«
    »Sie sollten mal meine Mutter kennenlernen. Sie ist ständig auf Schnäppchenjagd. Sie sagt, es hat etwas mit dem Krieg zu tun.«
    Ich nahm an, dass Mrs. Shapiro etwas älter als meine Mutter war, vielleicht Ende Siebzig. Faltiger, aber auch lebhafter. Statt in den alterstypischen breiten Halbstiefeln mit Klettverschluss wackelte sie wie ein Starlet auf zehenfreien Stöckelschuhen herum, aus denen die schmuddeligen Zehen ihrer grauweißen Baumwollsocken heraussahen.
    »Nicht nur mit dem Krieg, Darlink. Ich hab schon früh im Leben lernen müssen,
    über die Runden zu kommen. Ein hartes Leben ist ein guter Lehrmeister, nich wahr?«
    Ihre Wangen waren rot, der Blick konzentriert und wach, die Stirn leicht gerunzelt vom Mitrechnen, als die neuen Etiketten auf den alten landeten.
    »Kommen Sie schon, Georgine, Sie müssen zupacken!«
    Ich drängelte mich an einer der dicken Damen vorbei und griff bei einer Dose Chicken Korma zu, die von 2,99 auf 1,49 heruntergesetzt war. Mama wäre stolz auf mich gewesen.
    »Man muss schnell sein! Mögen Sie Würstchen? Hier!«
    Mrs. Shapiro riss einem erschrockenen Rentner eine Packung Würstchen aus der Hand, die auf 59 Pence reduziert war, und warf sie in meinen Korb. »Oh ... danke.«
    Die Würstchen sahen unappetitlich rosa aus. Sie ergriff mein Handgelenk, zog mich zu sich und flüsterte mir ins Ohr: »Die können Sie haben. Juden essen keine Würstchen.« Enttäuscht sah der Rentner den Würstchen hinterher.
    »Sind Sie auch jüdisch, Georgine?« Anscheinend hatte sie den entgeisterten Blick bemerkt, mit dem ich die Würstchen ansah. »Nein. Ich bin nicht jüdisch. Ich bin aus Yorkshire.« »Ach, so. Macht nichts. Sie können ja nichts dafür.«
    »Haben Sie sich die Schallplatten schon angehört, Mrs. Shapiro? Sind sie in Ordnung? Nicht zu zerkratzt?«
    »Herrliche Platten. Glinka. Rimski-Korssakow. Mussorgski. Was für Musik. So erhebend.« Sie spreizte die knochigen Hände theatralisch in der Luft, mit glitzernden Ringen und kirschrot lackierten Fingernägeln. Aus der Nähe sah ich das Rouge auf ihren Wangen, das ich für Röte der Aufregung gehalten hatte; in Wirklichkeit waren es zwei kreisrunde rote Tupfen, der eine hatte in der Mitte einen deutlichen Fingerabdruck.
    »Schostakowitsch. Prokofjew. Mjaskowski. Mein Arti hat sie alle gespielt.«
    »Wer ist Arti?«, fragte ich, doch sie wurde von einer Quiche Lorraine für 79 Pence abgelenkt.
    Ich wollte nicht zugeben, dass ich mich nicht für Klassik interessierte - für mich war es Rips Angebermusik. Persönlich war ich eher ein Fan von Bruce Springsteen und Joan Armatrading.
    »Ich fürchte, ich habe kein Ohr für Musik.«
    Rip hatte mich immer damit aufgezogen, wie unmusikalisch ich war und dass selbst mein Badewannengesang kultivierten Ohren wehtäte.
    »Große Kunst ist nichts für die Massen, Darlink. Aber vielleicht wollen Sie etwas lernen, hm?« Sie klimperte mit ihren azurblauen Lidern. »Ich werde Ihnen etwas vorspielen. Essen Sie gern Fisch?«
    Als sie das sagte, fiel mir der fischige Geruch unter dem Käse-Chanel-Aroma auf. Er kam aus ihrem Einkaufswagen. Bei ihrer Schnäppchenbeute lagen mehrere Packungen Fisch, auf denen SONDERPREIS stand. Ich zögerte. Dieser Fisch roch eindeutig verdächtig. Selbst Mama hätte ihn liegen lassen.
    »Kommen Sie zum Essen, ich koche für Sie.«
    Armes altes Ding, sie musste einsam sein, dachte ich.
    »Das würde ich gerne, aber ...« Aber was?
    Während ich versuchte, mir eine Ausrede einfallen zu lassen, stieß sie plötzlich einen gellenden Schrei aus. »Nein, nicht! Du Dieb!«
    Im Gang entstand ein wütendes Handgemenge, rasselnd krachten Einkaufswagen aufeinander. Der Rentner, dem sie die Würstchen weggenommen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher