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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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um atmen zu können.
    »Ja, wenn sie dich amüsiert. Sie wird ihr ohnehin bald weggenommen. Das wird sie ermutigen, noch ein Kind zu bekommen. Schreckliche Mütter, diese Negerinnen.«
    »Sie wird meine Begleiterin sein«, sagte Caroline. »Ich könnte sie im Haus anlernen oder sie dazu erziehen, meine Zofe zu sein.«
    »Nun, du könntest es versuchen«, sagte ihr Bruder. »Aber beeil dich – die Hitze wird unerträglich.«
    Kitty trat vor, um July aus Carolines Griff zu befreien. Doch Caroline schlug ihr auf die Hand und rief: » Was macht sie denn da?«
    John Howarth hob seine Peitsche gegen Kitty, und seine grimmige Miene verriet sein Vorhaben. »Mach dich auf den Weg«, sagte er, »überlass das Kind deiner Herrin.«
    Kitty ließ ihr Kind los und sagte nur: »Aber sie geht nach Unity Pen, Massa. Wir ham ’nen Passierschein.«
    »Sei still«, rief John Howarth, »deine Herrin wird sie zu sich nehmen. Sie wird im Herrenhaus wohnen. So, jetzt kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.«
    Caroline hatte Mühe, die Kutsche zu besteigen, denn sie hatte July fest im Griff, doch das Kind verbreitete noch immer
den Gestank der Neger; es war schwierig, es hochzuheben und gleichzeitig die Nase von seinem beißenden Geruch abzuwenden. Als sie endlich beide auf dem Wagensitz saßen, fragte Caroline ihren Bruder: »Meinst du nicht auch, dass Agnes sie einfach niedlich finden wird?«
    Und er antwortete: »Kleine Nigger entlocken meiner Frau kein Lächeln mehr«, und damit ließ die Kutsche Kitty rasch hinter sich.

FÜNFTES KAPITEL
    Geneigter Leser, komm mit und schau durch ein Fenster des Herrenhauses. Und erlaube mir, dass ich dich ins Innere dieses prächtigen Gebäudes entführe, in ein Zimmer, das von einer kühlen Abendbrise gefächelt wird. Ruhe dich dort auf einem Sessel aus, der mit glattem Seidenstoff bezogen ist, im Zwielicht mehrerer feinster Bienenwachskerzen, die die Luft mit süßem Duft erfüllen.
    Gib dich eine Weile dem Müßiggang hin. Sinniere, wenn du magst, ob du auf dem aufgeklappten Kartentisch vielleicht eine Partie Solitaire spielen willst. Oder vielleicht verlangt es dich nach einem erfrischenden Getränk. Gähne ausgiebig und rekele dich, denn es ist bereits spät am Abend. Tu, was dir beliebt. Nur um eines bitte ich dich: dass du, wenn du diesen Zeitvertreib hinter dir hast, den Kopf wieder dem Fenster zuwendest.
    Sorge dich nicht um die Ritzen im Lattenholz, die es der Brise erlauben, das laute Rasseln der krächzenden Nachtgeschöpfe hereinzutragen. Auch nicht um das hohe Bogenfenster an der gegenüberliegenden Wand, das dir tagsüber einen klaren Blick über den Rasen bis hin zum Horizont gestattet, nachts jedoch so schwarz ist, dass dein Widerbild darin klar wie in einem Spiegel vor dir steht. Nein, befasse dich nur mit dem kleinen Fenster. Sieh, wie die Blätter der Pflanzen den Ausblick auf alles verstellen, mit Ausnahme des dichten Laubwerks selbst, das sich ans Fenster drängt. Bei flüchtigem Hinsehen wirken einige der Palmblätter wie Finger, die sich gegen die Glasscheibe pressen. Komm, sieh noch genauer hin, denn wenn du aufmerksam suchst, wirst du entdecken, dass dort in dem wirren
Gestrüpp in der Tat Finger aus Fleisch und Blut sich spreizen. Es sind die Finger der rechten Hand von Kitty, die sich voller Kummer ans Fenster lehnt, um einen Blick auf July, ihr einziges Kind, zu erhaschen, das sich drinnen aufhält.
    »Guck nicht so geknickt, dein Wurm wird ihr Pipi auf ’nem Thron machen«, hatte Miss Rose gezwitschert, als Kitty ohne July in ihre Hütte zurückgekehrt war. »Im großen Haus hamse ’nen Stuhl aus schönem Holz, da sitzen se drauf – mit gradem Rücken und so – und lassen ihr Geschäft einfach fallen. Und wenn’s in die Schüssel plätschert, klimpert’s wie Regen auf ’ner Kalabasse. Und wenn se fertig sind, machen se überm Haufen ’nen hölzernen Deckel zu – dass ihnen der Geruch nicht den Tag verdirbt. So feine Leute sind’s in dem großen Haus. Und da gehört Miss July hin. Die weiß, sie ist das Wurm vom Aufseher Dewar, aber der guckt sie ja nicht mal an. Aber im großen Haus wird se sich endlich fühlen wie’s Kind von ’nem weißen Mann. Komm, setz dich auf die Schüssel und mach Pipi, werden se ihr sagen. Ganz froh musst dich jetzt fühlen. Miss July im großen Haus! Schau, Schuhe wird se kriegen!«
    Dennoch schlich Kitty jeden Abend den ausgetretenen Pfad entlang, stahl sich durch den gepflegten Garten, kletterte über eine niedrige
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