Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
Vom Netzwerk:
erleichtert das die Lektüre.
    »Marguerite, Marguerite!« Das ist Caroline Mortimer, die nach July ruft. Sie hatte sich entschlossen, ihre Sklavin Marguerite zu nennen, denn es gefiel ihr, dass der Name ihr wie ein Triller von der Zunge rollte. Doch nur Caroline Mortimer entdeckte eine Marguerite, wenn sie July ins Gesicht blickte. Und so müssen wir zurückkehren zu meiner Geschichte.
    Caroline Mortimer lag ausgestreckt auf ihrem Ruhebett und war zu schlaff von der Mittagshitze, als dass sie die Hand hätte heben und die Glocke läuten können. »Marguerite«, kreischte sie noch einmal und sank dann vor lauter Anstrengung, die ein solches Gebrüll ihr abverlangte, in sich zusammen. Geneigter Leser, viele Jahre meiner Geschichte sind vergangen, und jetzt waren es acht, vielleicht neun Jahre, dass Caroline im Herrenhaus der Plantage mit Namen Amity wohnte. Inzwischen machte die Hitze der jamaikanischen Sonne sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schlapp wie eine alte Katze. Sie besaß keine Kraft mehr, gegen diese Mattigkeit anzukämpfen. Eine kleine Stickerei oder das Arrangieren von Blumen in einer Vase war einfach zu anstrengend für sie.

    Sie lag auf ihrem Ruhebett und wünschte sich, das hohe Fenster – mit dem unverstellten Blick über den Rasen bis hin zum Horizont – möge eine kühlende Brise einlassen und nicht den ermüdenden Tumult der Neger, den sie ständig mit anhören musste. Das rhythmische Geleier der Arbeitslieder, die die Feldsklaven sangen, das Iahen eines Maultiers, das Stampfen von Füßen, das Knallen einer Peitsche, der Galopp eines Pferdes, ein greller Schrei, das Quietschen eines sich langsam fortbewegenden Karrens. Und ganz in ihrer Nähe, sodass es sich anfühlte wie eine nagende Sorge in ihrem Kopf, das Geplapper und Geschnatter der arbeitsscheuen Haussklavinnen, die mit irgendetwas beschäftigt waren … nur, womit eigentlich? »Marguerite«, brüllte sie noch einmal.
    In der Küche schreckte Vorarbeiter Godfrey aus seinem Nickerchen hoch und leckte sich die Oberlippe, um seinen vertrockneten Mund anzufeuchten, bevor er July behutsam mit dem Fuß anstieß und sagte: »Missus ruft.«
    July sah von ihrer Näherei auf und antwortete: »Geh gleich, hab zu tun.«
    Als der Ruf aufs Neue ertönte, so durchdringend, dass die Köchin Hannah in ihrem traumverlorenen Schlaf »Ha!« sagte, lehnte sich Godfrey auf seinem Stuhl vor, um Julys Arbeit zu inspizieren.
    »Hast ’n da?«
    »Kleid von der Missus. Sie braucht’s«, erklärte July.
    »Dann bring’s ihr«, sagte Godfrey.
    »Kann nicht, noch nicht fertig – sind noch drei Knöpfe dran.«
    Wie in allen Herrenhäusern der Insel war die Küche eine große, dunkle Hütte mit breitem Kamin und hölzernen Jalousien vor den geöffneten Fenstern und lag ein kurzes Wegstück hinter dem Haupthaus. Godfrey benötigte nur drei Schritte, um von der Küche zum Haus zu gelangen, denn er war ein
hochgewachsener Mann mit langen Beinen. Für die nicht ganz so aufgeschossene July und die beiden anderen Kammermädchen Molly und Patience waren es sechs Schritte. Für die Köchin Hannah ein langer, langer, ermüdender Marsch. Ins Haus bestellt zu werden, um sich die Liste mit den Nahrungsmitteln anzuhören, auf denen diese Fettwänste herumkauen wollten, war eine Tortur für sie. Im hohen Alter von sechzig Jahren verabscheute Hannah jede Bewegung, die nicht rund um ihre Küche stattfand. Doch für eine weiße Missus wie Caroline Mortimer war der Ausflug in die entgegengesetzte Richtung, vom Haus zur Küche, eine Wegstrecke von beträchtlicher Entfernung – wie die zwischen Mond und Erde.
    »Miss July, mach doch die Spitze für mich ab«, sagte Molly. »Passt so hübsch zu meinem Kleid.« Sie hatte sich am Fenster umgedreht, von wo sie mit ihrem unversehrten Auge ins Freie gestarrt und vier Hühnern dabei zugesehen hatte, wie sie auf dem staubigen Boden herumpickten.
    »Missus wird’s merken, wenn se fehlt«, sagte July.
    Molly sog an den Zähnen. Sie mochte July nicht leiden. Ich könnte sagen, es habe daran gelegen, dass July ihr die einfachen Arbeiten weggenommen hatte; denn July war von einem schmuddeligen Negerkind – das man nur für die Feldarbeit vorgesehen hatte – zur Lieblingszofe der Missus aufgestiegen und konnte damit prahlen, dass ihr Papa ein Weißer war, obwohl Molly die hellere Hautfarbe hatte. July war nun mit ihren achtzehn Jahren zu einer temperamentvollen jungen Frau mit verschlagenen schwarzen Augen, schmaler Nase und dünnen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher