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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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Negerin spürte, entzog sie ihr die Hand. Dann aber, als sie hinabblickte, sah sie Julys niedliches, zu ihr emporgewandtes
Gesicht und ihre großen, feuchten Augen. Caroline lenkte ein und drückte Julys kleine Finger. Kitty verlagerte den Blick von den Füßen ihres Massas, auf denen er während der gesamten Begegnung geruht hatte, zu ihrem Kind. Sie sah, wie July der weißen Frau das anmutige Blumensträußchen hinhielt, so wie sie es zuvor ihrer Mama hingehalten hatte.
    »Du siehst«, fuhr John Howarth fort, »es war ein Risiko. Das ist nicht so wie bei Hunden – die kommen nicht mit großen Pfoten zur Welt, die einen Hinweis auf ihre endgültige Größe enthalten. In Wahrheit war ich also nicht nur pfiffig, ich hatte auch Glück. Es ist eine gute Sache, dass Guy Campbell wieder in Perthshire ist, denn wenn er sie jetzt sähe, müsste er seinen Hut fressen.«
    Kitty trat einen Schritt vor, um Caroline Julys Hand zu entwinden. Aber John Howarth schrie sie an: »Bleib, wo du bist!« Dann schnippte er mit den Fingern und sagte: »Zeig deiner Herrin deine Beine.«
    Kitty rührte sich nicht vom Fleck.
    »Zieh deinen Rock hoch und zeig ihr deine Beine.« Als Kitty seinen Befehl noch immer nicht befolgte, schnaubte er: »O gütiger Gott«, griff nach dem verschlissenen Stoff von Kittys Rock und zog ihn ihr fast bis zur Taille hoch. Kitty drehte den Kopf zur Seite, als John Howarth seine Schwester heranwinkte. Mit der Hand begann er, Kittys Bein zu reiben, und sagte: »Komm, fühl mal die Muskeln.«
    Wieder sperrte Caroline den Mund auf, so dunkel und stark waren Kittys Beine; wie Baumstämme schienen sie aus der festen Erde herauszuwachsen.
    »Komm schon, Caroline, ich halte sie fest, sie wird schon nicht beißen. Komm nur, fühl mal, wie kräftig die sind.« Zusammen mit July, die sich noch immer an ihr festhielt, trat Caroline vor und ließ ihre Finger flüchtig über Kittys Wade gleiten. Doch erst als sie spürte, wie Julys kleine Hand es Caroline nachtat, drehte Kitty sich um und sah hin. »Das kommt von der Arbeit
mit dem Zuckerrohr, dafür sind sie wie geschaffen. Die hier dürfte der ersten Kolonne angehören – Zuckerrohr schneiden, graben, düngen, alles Arbeiten, die ein bisschen Kraft erfordern. Obwohl, mit einem Kind … Stillende Mütter arbeiten gewöhnlich mit den Schwächlingen in der zweiten Kolonne. Da ist die Arbeit leichter – die Mühle bestücken, die Abfälle vom Boden auflesen, so was halt.«
    Caroline richtete sich auf und fragte: »Und arbeitet das kleine Mädchen auch?«
    »Unkraut jäten«, antwortete er, »den Feldsklaven in der dritten Kolonne Wasser bringen. Nichts Besonderes. Für Kinder ist das eher wie ein Spiel. Aber die hier«, sagte John und klatschte auf Kittys Oberschenkel, »sieh sie dir nur an. Der Aufseher, Dewar, sagt, wenn Negerfrauen sich auf dem Feld vornüberbeugen, baumeln ihre Brüste so weit hinunter, dass sie aussehen wie ein Tier mit sechs Gliedern.«
    John begann zu lachen, bis seine Schwester sagte: »Bitte, sei doch nicht so vulgär.«
    »Kannst du dir vorstellen, über diese Beine Seidenstrümpfe zu streifen, Caroline? Einige Leute in England meinen, das sollte man tun«, sagte er.
    Kitty wich vor seiner Berührung zurück, aber er zerrte sie wieder zu dem Platz, wo er sie hingestellt hatte. Er ließ ihren Rock herabfallen und musste noch immer darüber lächeln, wie erheiternd das alles war. Als John Howarth den Einspänner bestieg, um die Fahrt fortzusetzen, schnippte er mit den Fingern und sagte zu Kitty: »Los, verschwinde jetzt.« Aber Kitty regte sich nicht, denn sie sah, dass ihr Kind July noch ganz im Bann von Mrs Caroline Mortimer stand; ihre Hand umklammerte sie noch immer, ihre Augen waren noch immer auf sie geheftet.
    »Geh schon, fort mit dir«, sagte John Howarth noch einmal.
    Kitty rief July mit einer Dringlichkeit zu sich, die ihr die Kehle zuschnürte. Aber ihr Kind hörte nicht auf sie, denn es
war zu sehr mit seiner neuen Spielgefährtin beschäftigt. Es hüpfte um Carolines Füße herum und streute die Blumen, die es gepflückt hatte, vor ihr auf die Erde.
    »Ach, ist die niedlich«, sagte Caroline abermals.
    Ihr Bruder, der ungeduldig wurde, da er die Rundfahrt auf dem Anwesen beenden wollte, rief Caroline zu: »Na, dann nimm sie eben mit.«
    Kitty drehte sich zu ihrem Herrn um.
    »Mach schon, Caroline. Beeil dich. Wir müssen aus der Sonne.«
    »Darf ich sie wirklich mitnehmen?«, fragte Caroline.
    Kitty versuchte, ausreichend Luft zu holen,
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