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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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erblickte, die am späten Morgen eine Straße entlangwanderten, die aus dem Tal hinausführte, weg von seinen Ländereien, hatte ganz andere Sorgen.
    »He, du, stehen geblieben«, befahl er der Sklavin, als der Einspänner neben ihr anhielt. Erst da wandte Kitty den Blick und sah ihren Massa.
    »Wo willst du hin?«, fragte er.
    »Hab ’nen Passierschein, Massa. Ich und mein Wurm. Geh zum Plauderplausch, Massa.«
    John Howarth streckte die Hand aus, damit Kitty ihm den Passierschein reichte. Aus den Falten ihres Rockbundes holte sie einen vergilbten Papierfetzen hervor. Er schnappte sich die kostbare Erlaubnis, wobei er sie fast zerrissen hätte. »Wo willst du hin? Für den Markt ist es ja wohl zu spät?«, fragte er.
    »Bitte, Massa, nach Unity Pen.«
    »Was hast du da zu suchen?«

    »Muss meine Früchte verkaufen.«
    Caroline stieg vom Wagen und ging zu dem Kind. Sie stellte sich neben das Mädchen und sah zu, wie ihre winzigen schwarzen Finger die hübschen Blüten pflückten und zu einem Sträußchen zusammenstellten. Das Mädchen war kaum älter als neun Jahre, mit großen braunen Augen, dicken, runden Wangen und einem weißen Tuch auf dem Kopf. Caroline kniete neben dem Kind nieder, das sich umwandte und sie ansah. War seine Haut auch nicht so schwarz wie Schuhwichse, so erinnerte sie Caroline doch an eine der Puppen aus ihrer Kindheit. »Ach, wie niedlich«, kam es Caroline wieder mit einem Seufzer über die Lippen. Die Kleine hielt Caroline den Blumenstrauß unter die Nase, damit sie den Duft einatmen konnte. Und Caroline war überrascht, dass eine Negerin sie so beglücken konnte. »Oh, vielen Dank, meine Liebe«, sagte sie, als sie an den Blumen roch. Caroline rief nach ihrem Bruder und fragte: »John, wie heißt die Kleine?«
    »Woher in Gottes Namen soll ich das wissen?«, kam die Antwort.
    »Aber sie ist so niedlich. Findest du nicht, John?«, sagte Caroline, dann fügte sie hinzu: »Wie, hast du gesagt, ist ihr Name?«
    John Howarth befahl Kitty mit einem Kopfnicken, die Frage seiner Schwester zu beantworten, ließ die Zügel des Pferdes fallen und stieg vom Wagen. Als Kitty nichts sagte, schrie er sie an: »Sag deiner Herrin den Namen des Kindes.«
    Und Kitty flüsterte: »July.«
    Caroline hatte Kittys Antwort nicht gehört und fragte noch einmal: »Wie heißt sie?«, woraufhin John Howarth seine Schwester ungeduldig anfuhr: »July, Caroline. July, hat sie gesagt. Wie der Monat!«
    »Aber July ist doch kein passender Name«, meinte Caroline, während ihr Bruder Kitty fragte: »Und wie heißt du?«
    Ihre Antwort, die sie leise zu seinen Füßen hinflüsterte, löste Gelächter bei ihm aus. »Kitty. Hab ich mir gedacht. Ja … ja, jetzt
erinnere ich mich«, sagte er, bevor er seine Schwester zu sich rief. »Caroline, komm her, ich hab was Amüsantes für dich.«
    Als Caroline zu John trat, sah sie sich gezwungen, zu der Sklavin Kitty aufzuschauen. Denn Kitty war hochgewachsen, und nur die Stämmigsten konnten ihr direkt in die Augen sehen. Ja, nicht einmal der Massa brachte das zuwege. Nachdem sie zu Kitty hinaufgestarrt hatte – in die tiefen Nasenlöcher ihrer breiten, flachen Nase, auf ihre dicken Lippen und über ihre strammen, prallen Schultern –, beugte sich Caroline zum Ohr ihres Bruders und flüsterte: »Ist das eine Frau?«
    »Zweifelsohne!«, lachte er.
    »Und die Mutter dieses Kindes?«
    »Glaube schon.«
    Caroline fragte sich, wie irgendein Mann unter Gottes weitem Himmel freiwillig einem so abstoßenden Geschöpf beiliegen konnte. Und wie ein Wesen, das so hässlich war, dass es die Sonne verfinsterte, die Mutter eines so niedlichen Kindes sein konnte.
    Ihr Bruder sprach noch immer und wedelte mit dem Arm vor seiner Sklavin herum, damit Caroline die volle Größe Kittys erfassen konnte. »Das Amüsante an der ist, dass sie, als sie gekauft worden ist, die Kleine Kitty genannt wurde. Sie ist als Baby von den Campbells in Nutfield hierhergekommen. Ich hab sie billig erworben, weil niemand damit gerechnet hatte, dass sie überlebt. Guy Campbell hielt sich für sehr schlau, weil er mir einen so seltsamen Handel angedreht hat. Die Kleine Kitty. Und jetzt schau sie dir an«, lachte er. »Ich versichere dir, Caroline, dein Bruder ist der beste Plantagenbesitzer in der ganzen Karibik.«
    Als Caroline so dastand und ihrem Bruder zuhörte, wie er ungeniert in sein eigenes Horn blies, trat July neben sie und legte ihre junge Hand in die Hand der weißen Frau.Als Caroline diese Berührung einer
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