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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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ihrer Anstellung nie mehr als drei vernünftige Worte von sich gegeben hatte; immerhin blieb sie wach. Doch Mary war noch immer sehr krank; in einer dunklen Hütte, kaum größer als eine Hundehütte, wurde sie von einer dicken Negerin gepflegt, die Marys schwachen, schwitzenden, ächzenden Körper genauso scharf bewachte wie ein Hund seinen Knochen. Und was die Gesellschaft ihres Bruders John betraf, so kam er ihr vor wie eine Luftspiegelung in der Mittagshitze, denn jedes Mal wenn Caroline sich ihm näherte, verflüchtigte er sich ganz einfach. Bis Caroline ihm eines Tages mit der Hartnäckigkeit eines Fallenstellers auf der Veranda der Villa auflauerte.
    »John, können wir einen Spaziergang auf dem Anwesen machen?«, bat sie ihn.
    »Einen Spaziergang, Caroline! Das hier ist nicht England. Nach zwei Schritten bringt die Hitze dich um. Hier geht niemand spazieren«, erwiderte ihr Bruder.
    »Dann einen Ausritt, John – ich kann noch reiten.«
    »Das Gelände ist viel zu gefährlich, außerdem habe ich kein Pferd, dass dein Ge…«, sagte er und ließ die Worte, die sich auf Carolines kräftigen Körperumfang bezogen, vorsichtshalber in einem Murmeln untergehen.
    »Ach, John, bitte führ mich doch herum. Ich möchte mein neues Zuhause sehen und die verschiedenen Arbeitsgänge begreifen«, sagte sie, und dabei wurde ihre Stimme so schrill, dass sie wieder das quietschende Scharnier heraufbeschwor.

    Nun wende, geneigter Leser, dein Augenmerk wieder der Straße zu, die durch die Plantage mit Namen Amity führt – der Kutsche, dem Fuchs und der holprigen Fahrt John Howarths und seiner Schwester Caroline, die hoch auf dem Wagen sitzen. Auf dieser Straße, mitten in dem Weg, den sie schließlich nehmen würden, ging eine große schwarze Sklavin. Auf dem Kopf trug sie einen Strohkorb voll krummer, süßer Maniokwurzeln, den sie so geschickt balancierte, dass es aussah, als trüge sie einen verzierten Hut. Ihr Rock, der einst gelb-schwarz gestreift gewesen, war nun, nach Jahren, in denen er in einem Fluss eingeweicht, auf Steinen gewalkt und in der Sonne getrocknet worden war, nur noch ein Schatten seines vormaligen Glanzes. Aber das Kind an ihrer Seite war mit einem Kleid aus dem gleichen Gewebe bekleidet, und diese Miniatur zeigte, wie die Stoffprobe eines Textilhändlers, das Tuch fast in seinen ursprünglichen Farben.
    Das kleine Mädchen verhielt seine Schritte, um ein struppiges Immergrün zu untersuchen, das sich Mühe gab, anmutig am Wegesrand zu blühen. Sie pflückte eine Blüte und schwenkte sie sachte in der Luft, in der Hoffnung, dass die Frau stehen bleiben und die violetten Blütenblätter betrachten würde. Doch die Frau hatte gar nicht gemerkt, dass das Kind nicht mehr neben ihr ging. »Mama«, rief das Mädchen, und als ihre Mama sich auf den Ruf hin umdrehte, kam das Kind auf sie zugelaufen und streckte ihr die Blume entgegen.
    Die Frau bückte sich, um die Blüte zu betrachten, die ihre Tochter fest in der Hand hielt. Dabei neigte sie ihren Kopf gerade so weit, dass der Korb mit den Wurzeln nicht verrutschte. Sie nickte und lächelte ihrem Kind zu, dann richtete sie sich wieder auf und ging weiter. Aber das kleine Mädchen begann, heftig am Rock der Mutter zu ziehen, um sie am Gehen zu hindern – sie stemmte ihre nackten Füße in die Erde, um festeren Halt zu finden. Obwohl sie nur mit einer Hand zog, spannte sich der Stoff des Rockes fast bis zum Zerreißen. Die Frau gab
dem Kind einen Klaps auf die Hand, damit es den mürben Stoff losließ, musste aber doch anhalten, um dem Kind Beachtung zu schenken.
    Sie hob den Korb vom Kopf und stellte ihn vorsichtig zu Boden, dann nahm sie die Blume des Kindes zwischen Zeigefinger und Daumen. Sie führte sie an die Nase, bevor sie sie auch dem Kind vor die Nase hielt. Tief atmete das Mädchen den Duft ein, indem es mit den Händen die breiten Finger seiner Mama umschloss. Und als die Mama begann, der Kleinen mit den zarten Blütenblättern über die Wange zu streichen, schlossen beide die Augen und genossen die sanfte Berührung. Schließlich richtete die Frau sich auf, setzte den Korb mit den Wurzeln wieder auf den Kopf und begann weiterzugehen, während das Mädchen, noch immer neugierig, weiterhin trödelte, um noch mehr Blumen zu finden.
    »Ach, wie niedlich«, sagte Caroline, als sie ein kleines Negerkind in einem gelb-schwarz gestreiften Kleid sah, das behutsam ein Sträußchen violetter Blumen pflückte. Ihr Bruder jedoch, der lediglich zwei Sklavinnen
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