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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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ohrenbetäubendes Gejammer aus: »Verdorben, Missus, ’s is’ verdorben!« Dann sackte sie zu einem schluchzenden Häuflein Elend zusammen.
    »So beruhige dich doch, Marguerite! Was ist denn passiert?«, kreischte die Missus – ihre Stimme klang so schrill, dass selbst Lady, die weit entfernt schlummernde Hündin, sich regte. »Zeig mir das Kleid, zeig’s mir sofort, oder ich werde dich auspeitschen … Ich werde … Ich werde … Hörst du? Hörst du? Ich werde …«
    Nun wusste July, dass ihre Missus sie nicht wirklich auspeitschen würde, denn sie hatte gar keine Peitsche. Wenn es ans Auspeitschen ging, dann würde diese Aufgabe John Howarth, dem Massa, zufallen. Der jedoch griff nicht mehr zur Peitsche. Seit dem Tod seiner Frau Agnes, die nur fünf Wochen nach Carolines Ankunft in Jamaika gestorben war, hatte er keine Kraft mehr zum Prügeln, denn in seinem einsamen Herzen schien es kein Verbrechen zu geben, das diese Strafe verdient hätte.
    Der Aufseher Tam Dewar andererseits war stets bereit, eifrig seine Peitsche zu schwingen. Doch Amity war eine betriebsame Plantage mit vielen, vielen, vielen trägen, drückebergerischen, listigen, unvernünftigen, abgefeimten Sklaven. Als Caroline das letzte Mal befohlen hatte, July zu züchtigen (dafür, dass sie ihre
Missus eine ganze Nacht im Haus allein gelassen hatte), hatte Tam Dewar – während der Kautabak seinen Atem im Verlauf der nicht enden wollenden Unterredung zu einem immer dunkleren Braun verfärbte – darüber geklagt, dass er nicht überall gleichzeitig sein könne. Und zu guter Letzt hatte er mit einem Sprühregen ranzigen Speichels geschlussfolgert, die Herrin möge lieber lernen, selbst die Peitsche zu handhaben.
    So hatte Caroline einmal versucht, die geflochtene Bockslederpeitsche (mit dem terrakottafarbenen Griff) zu benutzen, die ihr Bruder ihr aus der persönlichen Habe seiner Frau Agnes nach deren Tod vermacht hatte (diesmal, wie ich mich erinnere, weil July den Inhalt eines Nachttopfes auf dem Boden verschüttet hatte). Indes, als sie nach dem Rücken von July zielte, die sich eilends entfernte, traf sich Caroline mit der Schwippe recht elegant ins eigene Auge. Danach kam die Peitsche abhanden. Und trotz gründlicher Suche, an der sich sämtliche Hausnegerinnen beteiligten, gelang es keiner von ihnen, die Stelle zu finden, wo July sie versteckt hatte.
    Die bevorzugte Strafe der Missus bestand darin, July mit ihrem Schuh hart auf den Kopf zu schlagen. Obwohl Caroline dabei hüpfte und humpelte, konnte sie July mehrere Minuten lang durchs Zimmer jagen, um ihren Schlag anzubringen. July zischte und wirbelte umher, um ihr auszuweichen. Denn sie wusste, dass die tropische Hitze diese verrückte, fettarschige Missus bald so erschöpfen würde, dass sie in einem Ohnmachtsanfall auf ihr Ruhebett sinken würde. Aber ihre Missus war unberechenbar. Jederzeit mochte sie sich an July heranschleichen, um ihr auch noch im Nachhinein den beabsichtigten Schlag zu versetzen. Denn eine nicht ausgeführte Bestrafung setzte sich in ihrer Missus wie die Erinnerung an ein köstliches Abendessen fest, das nicht aufgegessen wurde.
    Manchmal, wenn die Missus für eine schwungvolle Maßregelung zu müde war, schlug sie July ins Gesicht. Meist war dies eine Maulschelle mit der flachen Hand. Hin und wieder
aber, wenn July die Drohung in den Augen ihrer Missus – diesen beiden farblosen, wachsamen Schurken, die sich zu winzigen Schlitzen zusammenkniffen – nicht rechtzeitig erkannte, konnte es geschehen, dass sie noch aufrecht stand, wenn sie ein zweiter Schlag mit dem Handrücken traf.
    Als die Missus zum ersten Mal eine Nadel fest in Julys Handrücken stach, blieb diese schmerzende Wunde länger in Julys Gedächtnis haften als irgendeine der anderen Stichwunden, die ihren Arm danach gezeichnet hatten. Denn diese war ihr verpasst worden, als July ein Kind von gerade einmal neun Jahren war und ihrer geliebten weißen Missus so treu ergeben wie ein eben geschlüpftes Küken einer Henne.
    Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte July so gern lernen wollen, wie man hübsch nähte und steppte, denn damals liebte sie es, wenn ihre Missus mit ihr zufrieden war. Dann bliesen ihre rosig weißen Wangen sich zu einem breiten Grinsen auf, das das ganze Zimmer auszufüllen schien, und sie wippte aufgeregt auf den Zehenspitzen. So wie damals, als July das Knie zu ihrem ersten vollendeten Knicks gebeugt hatte. Lauter als ein eingefangenes Schwein hatte ihre Missus gequiekt:
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