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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Autoren: Bill Clegg
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Kratzer
    Ich kann nicht weg, und es ist nicht genug da.
     
    Mark ist voll drauf und blafft nie gehörte Weisheiten von der Kante seines schwarzen Vinylsofas. Er fuhrwerkt herum wie ein dreifach beschleunigter Gehörlosendolmetscher – die Hände flattern, die Schultern und die Arme zucken. Die Beine sind auch in Aktion, werden unter seinem langen, dürren Gestell aber nur in regelmäßigen Abständen anders übereinandergeschlagen. Nur das Beinekreuzen läuft bei Mark einigermaßen geordnet ab. Der Rest ist eine Orgie von plötzlichen Bewegungen und Krämpfen, wie bei einer Marionette, die einem brutalen Puppenspieler ausgeliefert ist. Seine Augen sind, wie meine auch, mattschwarze Murmeln.
     
    Mark palavert von einem Crackdealer, bei dem er früher gekauft hat und der geschnappt worden ist – er hat’s natürlich kommen sehen, wie immer –, aber ich höre nicht hin. Mich interessiert nur, dass wir mit unserer Tüte durch sind. Das daumengroße Ziploc-Tütchen, das einmal prall mit Crackkörnern gefüllt war, ist leer. Es wird Tag, und die Dealer haben ihre Telefone abgeschaltet.
     
    Meine beiden Dealer heißen Rico und Happy. Mark zufolge heißen alle Crackdealer Rico und Happy. Rico hat sich auf meine letzten Anrufe hin nicht blicken lassen. Mark, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, über Handel und Wandel einer Handvoll Dealer auf dem Laufenden zu sein, behauptet, dass Rico nachlässt, weil er wieder auf Xanax ist. Voriges Jahr hat er seine Wohnung in Washington Heights drei Monate lang nicht verlassen. Also rufe ich jetzt Happy an, und der erscheint nach Mitternacht, als das 1000-Dollar-Tageslimit meiner Bankkarte ausläuft und ich wieder Geld abheben kann. Happy ist der Zuverlässigere der beiden, doch Rico liefert oft zu Zeiten, wo sich sonst kein Dealer rührt. Er kommt mitten am Tag, mit Stunden Verspätung zwar, aber die anderen schlafen dann alle und haben Feierabend. Er meckert und gibt dir eine Knausertüte, aber er kommt. Mit Marks Telefon rufe ich Rico an, doch dessen Mailbox ist voll und zeichnet keine Nachrichten mehr auf. Ich wähle Happys Nummer und bekomme direkt seine Mailbox.
     
    Happy und Rico verkaufen Crack. Sie verkaufen weder Freebase noch Pot, Ecstasy oder sonst etwas. Ich kaufe nur vorgekochtes Crack in Tüten. Manche Leute kochen es sich lieber selbst – ein kniffliges Verfahren, zu dem man Kokain, Backpulver, Wasser und eine Kochplatte braucht –, aber dabei habe ich nur jeweils das Coke verschwendet, mir die Finger verbrannt und einen nassen Klumpatsch herausbekommen, der sich kaum rauchen ließ.
     
    Gib mir den Kratzer
, blafft Mark. Sein Crackröhrchen – ein kleines Glasrohr mit eingelegtem Brillodraht – ist voller Kniest. Wenn er den rauskratzt, bringt uns das noch mindestens zwei Hits. Er legt die langen Beine übereinander wie ein Spinnentier, und einen Moment lang scheint es, als würde er umkippen. Er sieht aus wie über sechzig – graues Gesicht, Runzeln, vorstehende Knochen –, ist angeblich aber Anfang vierzig. Seit über drei Jahren komme ich mit zunehmender Häufigkeit zu ihm, um zu rauchen.
     
    Ich gebe ihm das schartige Metallteil, das bis gestern Abend noch als Schirmspeiche gedient hat. Zum Kratzen nimmt man alles Mögliche – meistens unlackierte Drahtkleiderbügel, aber Schirme haben lange, dünne, manchmal halbzylindrische Metallstäbe, die sich zum Auskratzen der Röhrchen besonders gut eignen und, wenn die Tüte leer ist, manchmal noch ein, zwei Wunderhits zutage fördern, bevor man die Couch und den Boden nach Krümeln (wie ich sage) bzw. Stückchen (wie Mark sagt) absuchen muss, also nach dem, was für alle Cracksüchtigen die letzte Zuflucht ist, bis sie an eine neue Tüte kommen.
     
    Ich will Mark den Kratzer geben, und er zuckt zurück. Das Röhrchen fällt ihm aus den Händen, fällt in Zeitlupe zwischen uns nieder und zerspringt auf dem abgestoßenen Parkettboden.
     
    Mark schnappt eher nach Luft, als dass er spricht.
Oh. Oh nein. Um Gottes willen.
Schon kniet er am Boden und stochert in den Scherben. Er klaubt etliche größere Glasstücke auf, legt sie einzeln auf den Couchtisch und fängt an, sie mit dem Kratzer zu bearbeiten.
Schaunwer mal. Schaunwer mal,
murmelt er vor sich hin, während er sich hektisch die einzelnen Scherben vornimmt. Wieder scheint es, als wären seine Gelenke, Hände und Gliedmaßen nicht von Leben erfüllt, sondern würden mit grimmiger Präzision von Schnüren geführt, die an ihm zerren und ziehen
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