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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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Lippen herangewachsen, die oft ein anmaßendes Lächeln zeigten; ein verdrießliches Negermädchen, von dem Nimrod (vormals Stallbursche auf Amity, inzwischen freigelassen) unentwegt redete, auch wenn er es gar nicht zu bemerken vorgab. In Wahrheit jedoch verachtete Molly jeden, der zwei gesunde Augen im Kopf hatte.

    »Na, dann muss ich ’n paar von ’n Knöpfen haben, die du da abtrennst«, sagte Molly, bevor sie wieder aus dem Fenster starrte.
    Patience trat mit drei Eiern in die Küche, die sie vorsichtig in der Falte ihrer Schürze trug. »Missus ruft«, sprach sie in die Luft. Patience war eine Frau, die ihrem Papa Godfrey so ähnelte, dass man zwei Mal hinschauen musste. Denn auf den ersten Blick hätte man meinen können, es handele sich um Godfrey, der Frauenkleider angezogen hatte.
    In jungen Jahren war Godfrey ein feiner, gut aussehender Mann gewesen und besaß noch immer einen Charme, der ihn wie die verblichenen Farben einer einstmals herrlichen Blume umhüllte. Inzwischen war sein Haar weiß, sein Rücken gebeugt und sein Gang langsamer, aber noch immer hatte er etwas Verwegenes an sich. Denn seine Augen blitzten vor Vergnügen, ganz gleich, auf welchen Schabernack oder auf welche Grausamkeit sein Blick fiel. Auf seinem breiten Rücken trug er fünfundvierzig Lebensjahre als Sklave, dreißig davon hatte er weißen Männern als Haussklave gedient. Doch es gab einen Körperteil, der durch die erbarmungslosen Strapazen rascher gealtert war als jeder andere: sein männliches Organ. Es war schlichtweg ausgelaugt. Vorwitzig, munter und einsatzbereit seit seinem zehnten Lebensjahr, baumelte es jetzt, nachdem es fast vierunddreißig Zuckerrohrernten hindurch Tag und Nacht Betätigung gesucht hatte, schlaff und ermattet herab. Die festen, breiten Hinterbacken einer vorgebeugten Frau konnten es nicht mehr wie früher zum Leben erwecken. Selbst in seiner anderen Funktion war es säumig. Einst hätte sein Strahl ein Feuer löschen können. Jetzt aber besaß Godfrey nicht mehr die Kraft, aufrecht zu stehen, wie ein Mann es tut, wenn er darauf wartet, dass sein Wasser fließt; vielmehr musste er geduldig auf einer Schüssel sitzen, denn aus seinem leblosen Organ tröpfelte es so unkontrolliert wie der Speichel aus dem Mund eines Wurms, das den ersten Zahn bekommt.

    »Missus ruft«, sagte Patience noch einmal und richtete ihren Atem diesmal auf July. Doch sie erhielt keine Antwort, denn in diesem Moment kam ein kleiner Junge in die Küche gelaufen und rief: »Sie hat das Ei. Ich will das Ei. ’s is’ mein Ei. Sie hat mein Ei. Ich hab’s gefunden. Sie hat’s genommen. ’s is’ mein Ei, mein Ei, mein Ei! Will mein Ei …«
    »Still, Byron«, rief Godfrey, als Hannah, die aus ihrem Schlaf erwacht war, jählings hochfuhr wie ein lebendiger Mensch, der in eine Leichengrube gefallen ist.
    »Byron, raus aus meiner Küche. Ich sag’s dir einmal, ich sag’s dir zweimal …«, brüllte Hannah.
    »Ich will das Ei. Sie hat mein Ei. Sie hat’s genommen …«
    Byron war einer von Godfreys Haussklaven. Er deckte den Tisch ab, fegte den Hof, holte das Wasser, tötete die Ratten. Aber sein Gesicht war stets dermaßen in Bewegung, dass Godfrey, wenn man ihn gefragt hätte, wie Byron aussah, ihn als verschwommenen Fleck beschrieben hätte – nachdem er gesagt hätte, er habe helle Haut, heller noch als die Haut seiner braven verstorbenen Frau (Gott sei ihrer Seele gnädig, aber er möge sie bitte nur nicht wieder zu ihm zurückbringen!). Denn nie blieb Byron lange genug stillstehen, dass Godfrey nachprüfen konnte, ob er seine Gesichtszüge wiedererkannte.
    »Byron, ich will dein Geschwätz nicht hören«, sagte Godfrey, aber Byron war bereits verschwunden. Statt seiner kam eine große braune Hündin hereingetapst, die auf den Namen Lady hörte. Sie bettete ihren müden Kopf in Godfreys Schoß, dann setzte sie ihr wabbeliges Hinterteil auf das Kleid der Missus, an dem July gerade arbeitete. Für das erschöpfte, staubige alte Tier waren der weiße Musselin und die Gaze, die über den schmutzigen Erd- und Ziegelsteinboden der Küche schleiften, weicher als ein Teppich.
    »Marguerite«, ertönte erneut der Ruf, und alle Seelen in der Küche – wenn man genauer hinhorchte, auch der braune Hund – gaben einen leisen Seufzer von sich.

    »July, geh schon«, schnaubte Godfrey. »Langsam krieg ich Kopfschmerzen.«
    July versuchte, das Kleid der Missus unter der Flanke des Hundes hervorzuziehen, doch der Hund blieb träge, aber
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