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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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Vorwort
    Manchen macht er Angst. Manche, die ihn nicht lesen, über ihn aber reden hörten, fürchten bloß, dass er ihnen Angst macht. Andere macht er traurig, ohne dass sie zu sagen wüssten, warum. Einige gar fühlen den Anhauch der Depression und legen seine schmalen Bücher darum vorsichtig beiseite. Vorbehalte gibt es viele, und das Gerücht, er sei im Grunde verrückt gewesen, findet noch immer Nahrung genug, auch in seinen vollendeten Texten. Gewiss, es ist nicht die Aufgabe der Literatur, für die Probleme, die sie aufwirft, beruhigende Lösungen gleich mitzuliefern oder gar den Nachweis zu führen, dass alles seine guten Seiten hat. Wir wissen, dass dies nicht wahr ist, und wir mögen keine Autoren, die uns für naiv halten. Aber wenn Literatur jenes reale Scheitern, das niemandem erspart bleibt, in einem offenbar lustvoll imaginierten Scheitern vielfach spiegelt und es überdies umrankt mit einem unablässigen, nirgendwohin führenden Reden über das Scheitern – dann fragen wir, ob hier nicht der Autor einer durchaus privaten Obsession die Zügel schießen lässt und warum wir ihm dabei so aufmerksam zuhören und zuschauen sollen, wie er es offenbar erwartet.
    Manche macht er ungeduldig, nervös. Denn er verrätselt seine Texte und scheint Freude daran zu haben, den Leser auf Abwege zu führen, in labyrinthisch anmutende Gedankenschleifen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Ein gewisser Gregor Samsa, der sich in ein Insekt verwandelt, und ein Josef K., der ohne erkennbaren Grund verhaftet wird, sind seine berühmtesten Erfindungen. Was diesen beiden Figuren widerfährt, ist erregend, phantastisch, es gibt zu denken und frustriert dennoch alle Erwartungen. Freilich, wer eine Beziehung zur Literatur unterhält, und sei es die unsicherste, versteht nach wenigen Seiten, dass jede vernunftgemäße Erklärung, jede ›Auflösung‹ diese Prosawerke zerstören würde, auch wenn es die Helden und mit ihnen die Leser nach Entspannung noch so sehr verlangt. Irgendeinen handfesten Trost gibt es hier nicht, kann es nach den Spielregeln avancierter Literatur nicht geben, allenfalls den sehr vorübergehenden Trost dessen, der sich im freien Fall befindet und der sich selbst versichert, dass ja bisher alles gut gegangen ist.
    Und dennoch gibt es eine Fraktion von Lesern – sie ist nicht kleiner geworden im Lauf der Jahrzehnte –, die sich an ihm begeistert und die Lektüre seiner Prosa für den höchsten Genuss hält, den Literatur zu bieten hat. Solche Leser lassen sich weder von mysteriösen plots noch von finalen Katastrophen abschrecken, sie nehmen sie hin als Bilder der Undurchdringlichkeit und Begrenztheit menschlichen Lebens schlechthin und des Lebens in modernen verwalteten Massengesellschaften im Besonderen. Denn was diese Bilder so bezwingend macht, ist nicht der darin verborgene Gedanke, über dessen Stichhaltigkeit sich noch streiten ließe, sondern dessen ästhetische Gestalt: die kristalline Sprache, die Fülle nie gehörter, wunderbarer Metaphern und Paradoxien, die provozierende Schlichtheit, die virtuose Beherrschung der Logik des Traums, der Funkenregen des Komischen, der noch die finstersten Momente des Verhängnisses illuminiert. Ihm scheint schlechterdings alles zu gelingen. Er ist der Autor, der keine Nachlässigkeiten, keinen sprachlichen Zierrat und keine leeren Effekte kennt. Er ist der Autor, der niemals schläft.

    Es konnte nicht ausbleiben, dass sich an einem Schriftsteller wie Franz Kafka, der bereits ein Jahrzehnt nach seinem frühen Tod vielen als kometenhafte Erscheinung und zugleich als künftiger Klassiker galt, auch ein starkes biografisches Interesse entzündete. Das verzehrende Verlangen nach menschlichen Erklärungen, das seine Texte immer wieder aufs Neue entfachen, bordete gleichsam über auf Kafkas private Existenz und schließlich auf sein gesamtes kulturelles, politisches und soziales Umfeld. Die Frage lautete, wie ein Mensch wohl beschaffen sein muss, der derartiges hervorbringt, wie er zu dem hatte werden können, der er war, und noch lange Zeit war diese legitime Frage vom unausgesprochenen Verdacht grundiert, dass ein solcher Mensch nicht eigentlich ›normal‹ sein könne. Die ersten anekdotischen Erinnerungen, die über Kafka bekannt wurden, schienen diesen Verdacht noch zu bestärken. Es hieß, er sei ein vom Schreiben Besessener gewesen und habe dennoch in seinem Testament alle seine Manuskripte zur Vernichtung bestimmt – eine Geste der Selbstauslöschung,
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