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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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trüben, wenn er von diesem Abschied erzählt. Nein. Vielmehr wird er die Hände aneinanderlegen und sie gedankenverloren an die Lippen heben, während er, um das Gemeinte zu betonen, langsam ausspricht, dass Jungen wie er – Findlinge –, wollten sie sich besserstellen, die Wahl zwischen einer Beschäftigung als Hausdiener oder einem Gewerbe hatten; und Drucker zu werden, wird er mit überraschender Begeisterung sagen, Drucker zu werden sei sein sehnlichster Wunsch gewesen, seit er zum ersten Mal jene Penny Magazines durchgeblättert habe.
    Und ehe du dich’s versiehst, stehst du auch schon in einer beengten, staubigen Druckerei in der Water Lane südlich der Fleet Street, durch deren Fenster mattes Sonnenlicht fällt und die Staubflocken beleuchtet, die groß wie Münzen durch die Luft tanzen. Als sein neuer Lehrling eintrat, saß Linus Gray – ein hagerer, großer Mann von zweiunddreißig Jahren mit einer spitzen Nase, auf der er einen Fisch hätte aufspießen können, und mit einem edlen, kantigen Kinn – gebeugten Hauptes an einem Schreibtisch und prüfte mit der Achtsamkeit eines Chirurgen, der eine offene Wunde untersucht, mehrere große Bogen Papier.
    Als er Thomas erblickte, hellte sich seine Miene, die lustlos und gelangweilt gewesen war, mit einem Mal auf. Er sprang von seinem Stuhl, lachte und klatschte in die Hände. »Oh, warte
nur, bis sie dich sehen!«, sang er, hüpfte um seinen Schreibtisch herum und drehte Thomas im Kreis, um ihn in dem schummrigen Licht von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Linus Gray war so begeistert, einen Negerfindling zum Lehrling zu haben – einen schwarzen Jungen, der als Sklave in der Karibik zur Welt gekommen war und trotzdem jedes lateinische Verb konjugieren konnte, das Linus in den Sinn kam –, dass Thomas Kinsman von jenem Tag an sein ausgesuchter Liebling war.
    Als jedoch Linus Grays Frau Susan den neuen Lehrling zu Gesicht bekam, der bei ihnen in der Dachkammer logieren sollte, kreischte sie auf. Susan Gray bettelte ihren Mann an, in ihrem Haus keinen Hottentotten einzuquartieren; sie glaubte, er bringe nur Unglück. Aber Linus setzte sich über ihre Sorgen hinweg, indem er sie mit einem »Papperlapapp!« abtat.
    Thomas schrieb an James Kinsman, um ihm mitzuteilen, dass Susan Gray ihn nicht mochte und sich so vor ihm fürchtete, dass sie einen Besen mit sich herumtrug, wenn er im Haus war, damit sie sich Thomas vom Leib halten konnte, sollte er ihr jemals zu nahe treten. In seiner Antwort versprach James Kinsman, dafür zu beten, dass Thomas bald jene Gefühle hegen möge, die man einer Mutter entgegenbrachte.
    Wie er so im hohen, schmalen Haus der Grays, das an die Druckerei angrenzte, eingehüllt in eine Decke, allein oben in seiner Kammer saß, die wegen des schrägen Daches nicht größer war als ein Schrank, in dem trüben Licht und der schwachen Hitze zweier Kohlestücke, die im Kamin brannten, musste Thomas weinen. Mit dem Ärmel wischte er sich den schwarzen Rotz ab, der ihm aus der Nase lief.
    Und wenn Thomas Kinsman von jenen frühen Tagen in London erzählt, siehst du vielleicht, wie seine Augen sich umwölken. Mag sein, dass er das Gebet aufsagt, das er ersonnen hat – dass die Kinsmans, alle Kinsmans, ihn bitte, bitte, bitte zurückholen mögen.Vielleicht gesteht er seinem Zuhörer sogar, dass er daran dachte, wegzulaufen.Vermutlich aber nicht. Stattdessen
wird Thomas Kinsman eine Handbewegung machen, mit der er deine Besorgnis beseiteschiebt.Vielleicht verwendet er sogar das Wort »Papperlapapp«. Denn er will nicht, dass sein Zuhörer von Kummer beschwert wird, wo doch die Druckerwerkstatt winkt und er dir zeigen kann, was für ein geschickter kleiner Teufel er wurde.
    Die Druckerei Messrs Gray and Co. – ein Ziegelsteinhaus in der Mitte der Water Lane, das sich erschöpft an seinen Nachbarn anzulehnen schien – wurde Thomas Kinsmans eigentliches Zuhause. Denn von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends rannte er, sobald ihm der Ruf »Schwarzer Tom« entgegenschlug, die dunkle Wendeltreppe auf und ab, flitzte durch die engen, überhitzten Räume, krabbelte in staubigen Verschlägen umher, durchsuchte die überfüllten Wandschränke. Menschen, Papier, Metall,Tinte und Druckerpressen – alles schien seine Aufmerksamkeit zu fordern. An allen Ecken und Enden des vollgestopften fünfstöckigen Gebäudes herrschte ein solcher Trubel, dass die Lungen der Männer mit den Flammen der Kerzen um Luft rangen – und in langen Nächten hatten
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