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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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gelehrte Mann lächelnd zu Linus, »wird bald bis zu den Ohren in Kürbissen sitzen und nur eine halbe Stunde am Tag daran arbeiten.« Dann lachte er herzhaft und fuhr fort: »Das sind nicht meine Worte, sondern das ist ein weiser Satz von Thomas Carlyle, dem schottischen Homme de lettres, in seinem Diskurs zur Niggerfrage.«

    Und vierzehn Fehler fand der kluge Mann in seiner Druckschrift; vierzehn Fehler auf dem ersten Probeabzug; vierzehn, und er benötigte nur drei Tage, um sie zu entdecken. Linus gab den Probeabzug des Mannes seinem »Negerjungen« zu lesen, und in weniger als einer halben Stunde fand Thomas neunundsechzig weitere Fehler.
    Als der »Gelehrte von hohem Ruf« vorsprach, um seine gedruckte Broschüre abzuholen, ließ Linus den achtzehnjährigen Thomas kommen. Und Thomas Kinsman stand in gerader Haltung vor dem gebildeten Gentleman und sagte: »Sir, wie der Philosoph John Stuart Mill so messerscharf geschlossen hat: Wenn die Neger nur eine halbe Stunde am Tag gearbeitet hätten, wären die Zuckerernten dann so reichlich ausgefallen? «
    Als Lehrling erwarb sich Thomas Kinsman ein Wissen von der Welt und ihren Läuften, das ihm trotz all seiner Erziehung bislang verwehrt geblieben war. Denn Linus Gray war Freidenker, und die meisten der Männer, die bei ihm arbeiteten, wussten das. Es gab einen Klub zur gegenseitigen Vervollkommnung, dem Linus Gray Bücher, Zeichenmaterial und Papier zur Verfügung stellte und dem jeder seiner Arbeiter beitreten konnte. Die Zusammenkünfte wurden im Souterrain eines nahe gelegenen Hauses abgehalten. Der Eintritt kostete sechs Pence (im Winter drei Pence extra zur Unterhaltung eines Kohlenfeuers), und wer kommen konnte, aber nicht kam, musste zwei Pence Strafe zahlen.
    Da die Gruppe von sieben Männern dreihundert Tage im Jahr von acht bis elf Uhr abends zusammenkam, schloss Thomas sich ihr an. Denn er verspürte nicht den Wunsch, jeden Abend einsam in seiner Kammer zu sitzen oder seine Zeit damit zu verbringen, auf der Treppe Susan Gray mit ihrem Besen aus dem Weg zu gehen. Und Thomas Kinsman wird dir bereitwillig erzählen, dass sein Geist in der dunklen, feuchten, drückenden Beengtheit dieses Souterrains stetig Neues entdeckte wie ein
frisch geschlüpfter Vogel, der dort draußen eine weite Welt vorfand, in der zu fliegen er eines Tages die Kraft haben muss.
    Und in diesem seinem Nest las Thomas Don Quixote , Robinson Crusoe, die Werke Dickens’ – Die Pickwickier und Oliver Twist –, Wordsworth, Shakespeare, Shelley und viele andere mehr. Und die Vorzüge und Schwächen dieser Literatur wurden gründlich erörtert. Die Bibel, jenes Gute Buch, wurde auf Belege dafür abgeklopft, dass die Geschichten des Alten und Neuen Testaments auf Wahrheit beruhten und nicht jemandes Erfindung waren.
    Thomas Paines Abhandlung Die Rechte des Menschen hatte zur Folge, dass jeder der anwesenden Arbeiter, ob Engländer oder Neger, erklärte, das moderne Leben habe ihm schweres Unrecht zugefügt; weshalb gab es keine Steuererleichterungen für die Armen oder staatliche Bildungsbeihilfen? Und in einem Aufsatz, dem alle Beifall zollten, schrieb Thomas Kinsman, der Philosoph John Locke habe dargelegt, wie viele Dinge es gebe, die wir nicht wissen könnten, Dinge, die wir nur glauben könnten – und doch müssten Freidenker ihren Glauben auf Tatsachen, wissenschaftlichen Untersuchungen und logischen Prinzipien gründen; wie also könne ein Freidenker beweisen, dass ein Baum, den er durchs Fenster sieht, auch dann noch vor dem Fenster steht, wenn der Freidenker ihm den Rücken zukehrt? Ein völlig unsinniger Aufsatz, geneigter Leser, wie du mir zustimmen wirst, und doch wird Thomas Kinsman dich wissen lassen wollen, dass er einen Preis in Höhe von einem Shilling dafür gewann!
    Als Thomas Kinsman einundzwanzig war – seine Haare waren gesprossen, seine Stimme ein tiefer Bass und seine Schultern ausgesprochen breit –, schrieb er an James Kinsman und teilte ihm erwartungsvoll mit, er sei nicht länger als Lehrling an Linus Gray gebunden, sondern als Druckergeselle bei ihm beschäftigt. Und fügte ganz beiläufig hinzu, dass auch er jetzt dem deistischen Glauben anhänge.

    James Kinsman schickte ihm ein zwanzig Seiten umfassendes Antwortschreiben, in dem die Wörter »Heide«, »Götzendiener«, »Wilder« und »undankbar« eine äußerst prominente Rolle spielten. Das Wort »Atheist« wurde so oft wiederholt, dass Thomas in einer ausführlichen Erwiderung erklärte, er gehöre
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