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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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zwar nicht länger dem baptistischen Bekenntnis an, sei jedoch kein Ungläubiger, kein Atheist, sondern jemand, der an die natürliche Religion und an einen Schöpfergott glaube. Als Antwort sandte ihm James Kinsman nur eine Seite, auf der in großen Buchstaben das Wort »Gotteslästerer« stand.
    Und nun haben wir in Thomas Kinsmans Geschichte einen Punkt erreicht, da du in seinen Augen eine gewisse Traurigkeit entdecken wirst – aber sieh genauer hin, wenn er dir erzählt, dass Susan Gray leider verschieden sei, denn vielleicht verstellt er sich ja. Susan Gray starb im Alter von vierzig Jahren. Dem Hottentotten, der unter ihrem Dach wohnte, hatte sie vorgeworfen, an der Kinderlosigkeit ihrer Ehe ebenso schuld zu sein wie an dem Voranschreiten der Schwindsucht, die sie auszehrte, bis sie nur wenig mehr als ein Vögelchen wog. Linus Gray schluchzte an ihrem Totenbett mit der hysterischen Hemmungslosigkeit eines Kindes; er unterbrach sich nur, um den herbeigerufenen Priester anzufahren, er solle seine Heuchelei und seinen Schwindel auf ein Mindestmaß begrenzen und sich dann fortscheren.
    In der Tat trauerte Linus Gray um seine Frau so sehr, dass er nie mehr der Alte wurde. So niedergeschmettert war er von ihrem Tod, dass er seinen Schmerz mit Alkohol betäubte. Nicht nur Nacht für Nacht, sondern morgens und abends. Auf der Suche nach Linus musste Thomas Kinsman in der Gegend zwischen der westlichen Strand und St Paul’s durch dunkle Gassen und schmale Straßen jagen. Manchmal stöberte er ihn in den kleinen, von einer winzigen Gasflamme erhellten Räumen der Cheshire Cheese Tavern auf, wo er vor einem heißen gebackenen Schafskopf saß und ein Glas Bier umklammerte
oder auf einer Gabel ungeschickt einen kleinen Laib Brot im Feuer röstete. Dann grüßte er Thomas, legte ihm ernst den Arm um die Schulter und bat ihn, wegen ihres Verhaltens ihm gegenüber nicht schlecht von Susan zu denken. Oder er suchte Thomas mit Worten, die er wie ein Fischhändler verschliff, davon zu überzeugen, dass Susan Gray trotz der Art, wie sie ihren schwarzen Mieter behandelt hatte, trotz der Art, wie sie ihm stets mit dem Besen gedroht hatte, eine gute Frau gewesen sei.
    Zu anderen Zeiten fand er Linus in einem Gewirr enger Hinterhöfe, wo er nass, durchweicht und zitternd wie ein lahmer Stadtstreicher zusammengesackt in einem Gässchen saß und wieder und wieder schluchzte, wie sehr er seine Frau enttäuscht habe.
    Unterdessen war es Thomas Kinsman, der jetzt in der Druckerei Messrs Gray and Co. von den Dienstmännern des Parlaments Papiere, Berichte und Abrechnungen entgegennahm – der sie prüfte, kollationierte und formatierte, bevor er ihren Wert festlegte. Und es war Thomas, der die Schriftsetzer anwies, ihre Druckformen herzustellen, um Abzüge vorzubereiten, während Linus Gray, falls er überhaupt zugegen war, selbstvergessen und mit trüben Augen auf seinem Stuhl hockte.
    Bald war die tote Susan Gray in Linus’ Erinnerung keine Sterbliche mehr, sondern schlüpfte in die Rolle einer Heiligen. Dabei hatte Thomas Kinsman in all den Jahren, in denen er im Haushalt der Grays logierte, so wenig Zuneigung zwischen dem arbeitsamen, scharfsinnigen Linus und seiner prüden, frommen, schwermütigen Frau beobachtet, dass er zu der Überzeugung gelangte, die beiden hätten einander aus einem Versehen heraus geheiratet. Aber ihr Tod kostete auch Linus Gray das Leben. Erst warf er sich, hingestreckt wie ein Leichnam, im Kirchhof auf ihr Grab und jammerte zitternd, zuckend und voller Trauer zu den Sternen: »Verzeih mir, Susan, verzeih mir.« Dann, nicht einmal ein Jahr später, starb er.

    Die letztwillige Verfügung des Linus Gray enthielt den Wunsch, neben seiner Frau auf dem Kirchhof von St Bride’s in der Fleet Street beigesetzt zu werden; denn dies war eine schöne, friedliche Stätte, in der sein Geist frei wandeln konnte. Das Testament verfügte weiterhin, dass kein Priester seinem Begräbnis beiwohnen dürfe, denn, so hieß es, für derlei Frivolitäten habe er keine Zeit.
    Und dann konnte man Linus Gray von jenseits des Grabes lachen und sich die Hände reiben hören: »Oh, warte nur, bis sie das hören, warte nur, bis sie das hören«, denn in seiner letztwilligen Verfügung hieß es des Weiteren, dass er all seine Liegenschaften und seine persönliche Habe, was und wo auch immer, zu Ehren seiner Treue und Freundschaft und als Wiedergutmachung für das Unrecht, das Geburt und Schicksal ihm angetan hätten, dem Neger Thomas
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