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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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passenden Cutaway-Jackett und dem steifen Kragen des weißen Hemdes mit der geknoteten scharlachroten Seidenkrawatte, dann japste sie nach Luft. Denn plötzlich blickte sie in das Gesicht des schwarzen Mannes.
    »Bist du July?«, fragte der Mann erneut, »vormalige Sklavin, Haussklavin auf Amity? Deine Herrin war Caroline Mortimer?«
    »Nee«, antwortete sie, »bin ich nich’.« Denn der Ton, in dem er die Frage stellte, verriet solche Gewissheit, dass sie überzeugt war, sich mit dieser Antwort noch die geringsten Schwierigkeiten einzuhandeln.

    Aber der Mann beugte den Kopf über sie und sagte: »Ich glaube, du bist es.« Nur das. Zwei Mal sagte er es, bevor er sich bückte, um ihr vom Boden aufzuhelfen. »Ich glaube, du bist es.« Als der Mann Julys Arm berührte, versuchte sie, ihn abzuschütteln. Doch ohne jedes Anzeichen der Verärgerung lüftete der Mann seinen Hut und sagte: »Mein Name ist Thomas Kinsman. Kennst du mich?«
    Vielleicht hätte sie ihn erkannt, wenn er das Gesicht in Falten gelegt und gebläkt hätte wie ein greinender Säugling. Vielleicht wäre er ihr vertraut vorgekommen, wenn er ihr von einer mondlosen Nacht erzählt hätte, von einem Steinpfad und einem roten Tuch um den Kopf eines Kindes.Vielleicht hätte er Erinnerungen geweckt, wenn er ein auf einem Stein ausgesetztes, uneheliches schwarzes Wurm heraufbeschworen und von einer Baptistenpfarrei, von James Kinsman und seiner gottgefälligen Frau Jane geredet hätte. Und wenn er sich neben sie gesetzt hätte, um ihr die Geschichte von einem kleinen Negerfindling zu erzählen, der an Bord eines Schiffes namens Apolline von Jamaika weggebracht wurde, um in England ein neues Leben zu beginnen – vielleicht hätte July in diesem Thomas Kinsman ihren Sohn wiedererkannt.
    Und seine Chronik hätte mit der ausführlichen und erregenden Schilderung einer Schiffsreise einsetzen können; von Männern, die hoch in den Schiffsmasten hingen; von einem tosenden tiefblauen Ozean, der alle an Bord mit schäumendem Wasser durchnässte; von seinem zitternden, mit einer dünnen Salzschicht verkrusteten Körper. Vermutlich aber nicht. Denn Thomas Kinsman würde dir zuallererst den Namen der Gemeinde nennen wollen, in der die Familie Kinsman sich niederließ, nachdem sie in England eingetroffen war. Daher würde er seine Erzählung mit dem Wort Hornsey beginnen (so hieß die Gemeinde), bevor er dir (vielleicht mithilfe einer Landkarte) den Namen und die genaue Lage des Dorfes Crouch End nennen würde.

    Danach würde die Beschreibung eines kleinen Hauses in einer Straße namens Maynard folgen. (Manchmal wird er diese Straße auch mit dem Namen Mayfield belegen und seinem Zuhörer finstere Blicke zuwerfen, wenn dieser glaubt, er habe einen ganz anderen Namen genannt – doch bei der nächsten Fortsetzung würde wieder Maynard daraus.) Er wird dir zu verstehen geben, dass das Haus viel kleiner war als das, welches die Kinsmans in Jamaika bewohnt hatten, und dass die Küche sich unter demselben Dach befand wie die Wohnräume. Bedienstete aber huschten keine umher; denn Jane Kinsman, gottgefällige Frau, die sie war, erledigte sämtliche Pflichten, die in einem Pfarrhaushalt anfielen, ohne jede Hilfe selbst.
    In einem Herd brannte ein Feuer, und den ganzen Tag über brodelten und blubberten Töpfe und Tiegel. In einem Zimmer, das Vorderzimmer genannt wurde, glühte ein Kohlenfeuer. Ja, ein offenes Kaminfeuer in einem Zimmer, wo die ganze Familie saß und speiste und redete und las. Manchmal leuchteten die Flammen dieses Feuers bläulich, wegen der Gase, die das brennende Mineral freisetzte. Aber ein Zuhörer wäre klug beraten, Thomas Kinsman von diesem kleinen Detail abzulenken, denn seine Kenntnisse in Sachen Kohle würden ihn ermüden, noch ehe er von der Schlafenszeit in dem kleinen Haus erzählt hätte.Wie die drei Jungen – James, Henry und Thomas – jeden Abend die Treppe hinaufrannten, um in ein kaltes Pressbett zu springen, wo sechs zappelnde Füße, Ellenbogen und Knie sich um Wärme balgten, bevor sie sich zum Schlafen aneinanderschmiegten.
    Thomas Kinsman will, dass du hörst: »James, Henry, Schwarzer Tom, kommt raus, kommt raus«, denn das brüllte jeden Morgen die Bande zerlumpter Kinder, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite in heruntergekommenen Häusern mit rußgeschwärzten Fenstern wohnten. Dann will er, dass du mit ihnen losläufst, um den steilen Hügel bis zur Straße von Mount Pleasant zu erklimmen, von wo aus du die
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