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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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vorzutragen. Fahren wir fort – es ist viel zu heiß.«
    Als der Richter mit seinem Hammer auf den Tisch schlug, damit unsere July hinausgeführt und der nächste Fall gehört werden konnte, wurde es in dem heißen, heißen Gerichtssaal leicht unruhig. Denn auf der Geschworenenbank erhob sich ein Mann. Aber das war kein Weißer. Nein. Auch kein Mulatte. Kein Terzerone, kein Quarterone und ganz gewiss kein Quinterone. Es war ein Schwarzer, ein Neger, ein Nigger, der sich da erhob. Ein Nigger unter den Geschworenen. Und als er um Erlaubnis bat, sich der Richterbank nähern zu dürfen, klang seine Stimme vornehm und kultiviert wie die eines Engländers durch den Gerichtssaal.
    »Sehr regelwidrig, sehr regelwidrig«, kam es den Weißen im Saal stotternd über die Lippen.
    July wollte sich nicht aus der Anklagebank abführen lassen – sie krallte sich noch fester an die Wand, denn dieses Schauspiel durfte sie sich nicht entgehen lassen: ein Nigger, der aus dem Gerichtssaal geworfen wird, weil er sich für einen Gentleman ausgibt. Weil er – o arglistige Täuschung – mitten unter
den Geschworenen sitzt! Der Diebstahl einer Henne – was für ein kümmerliches Vergehen, wenn ein solcher Betrüger unter ihnen atmete. Das wollte sie sehen, wie sie ihn jagten. Wie der dicke Richter bei der Verfolgungsjagd stolperte und unter seiner Perücke schnaufte, um den schurkischen Nigger am Zeh zu packen. Wie der dünne Konstabler Campbell über Tische und Bänke sprang, um den abgefeimten, aufgeblasenen Schwarzen zu ergreifen, und schrie: »Stehen geblieben! Stehen geblieben!« – genauso wie er es ihr befohlen hatte, als er ihr nachgesetzt war. Wie der Richter aufstand und brüllte: »Ein entflohener Nigger in meinem Gerichtssaal. Haltet ihn! Haltet ihn! Ich werde dafür sorgen, dass er aufgehängt wird.« Gleich wird jemand kommen und dem durchtriebenen Neger eins mit der Peitsche überziehen. Oh, was für ein Tamtam und Trara sie gleich machen werden!
    Doch der Schwarze wurde weder gejagt noch ergriffen; keine Tische oder Bänke stürzten um bei seiner Verfolgung; niemand ließ die Peitsche knallen. Der Neger näherte sich der Richterbank aufrechten Ganges und mit anmutigen Gesten, um die Vernünftigkeit seines Begehrs zu unterstreichen, und redete flüsternd auf den Richter ein.Wohl zog der Richter die Brauen hoch und lehnte sich ein wenig zurück, als der Neger ihm seine Worte zuhauchte. Aber ihn zu ergreifen und aufzuhängen, das befahl der Richter nicht. Nein. Gleich darauf beugte er sich vor, um seinen Gerichtsschreiber um Rat zu fragen, was das Dilemma des Schwarzen betraf. Schließlich zuckte der Richter die Schultern, eine Geste des Sie-haben-meine-Erlaubnis-zutun-wie-Sie-belieben, und würdevoll neigte der Neger den Kopf vor ihm.
    Es gab überhaupt kein Tamtam und Trara.
    »Aber was is’ mit meiner Henne? Wegen dem Konstabler hab ich se verloren«, fragte July laut, als sie von dem schuppenhaarigen Mann schließlich doch noch aus dem Gerichtssaal geführt wurde. Sie hatte die Lüge schon so oft wiederholt, dass sie sie
mittlerweile selbst für wahr hielt. Doch als sie endlich draußen war, in der heißen, heißen Sonne, scheuchte der Konstabler sie mit den Worten fort: »Scher dich weg und sei froh, dass du nicht in Ketten liegst. Los, los, pack dich.«
    Nachdem July genügend Speichel gesammelt hatte, um ihn dem davongehenden Mann auf den Rücken zu spucken, ließ sie sich erschöpft zu Boden fallen. Wie lange würde sie sich ausruhen dürfen, bevor es einem Konstabler oder einem anderen Wichtigtuer einfiele, ihr Beine zu machen? Konnte sie ihre Lebensgeister wecken und die steinigen Meilen zurücklaufen? Und wo begann der elende Treck zu dem unwirtlichen, unebenen Brachland in der Nähe der Plantage, die einstmals den Namen Amity trug? Während sie noch überlegte, ob die Straße hinauf oder die Straße hinab der richtige Ausgangspunkt wäre, traten zwei glänzende schwarze Lederschuhe an sie heran und blieben vor ihr stehen.
    »Bist du July von Amity?«, fragte eine englische Stimme.
    July antwortete nur mit einem Seufzer. Denn sie dachte an die Mühe, die es kosten würde, sich vom Boden aufzurappeln.
    »Ich weiß, wer du bist – ich komme gerade vom Gericht«, fuhr die englische Stimme fort.
    Sie hatte nicht den Willen zu keifen: »Warum fragt Ihr mich dann, eh? Ha!«, denn es ermattete sie, den Satz auch nur zu denken. So stierte sie auf die geputzten schwarzen Schuhe, dann die graue Hose hinauf bis zu dem
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