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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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lang verharrt, wenn da nicht Miss Louise gewesen wäre. Denn plötzlich kam sie in den Garten gerannt und kreischte wie eine entlaufene Sklavin, die ausgepeitscht wird: »Papa, sag’s ihr … Papa, sag ihr, dass sie nicht … Papa, sag’s ihr«, während Miss Corinne, einen großen, braun behaarten, flatternden Falter in der winkenden Hand, ihr nachjagte.

    Einer von uns beiden, mein Sohn oder ich, hätte die beiden Mädchen streng verwarnen sollen, dass sie, sollten sie sich bei diesen Albereien die Röcke zerreißen, sie selbst nähen müssten. Einer von uns hätte sie ermahnen sollen, ihre Sonntagsröcke nicht durch den Dreck schleifen zu lassen. Aber ich lasse meine Leser raten, welcher von uns beiden, mein Sohn oder ich, schließlich genötigt war, das schreckliche Schweigen zu durchbrechen.
    So sitze ich nun an meinem Schreibtisch, stütze den Ellenbogen auf den flachen Stapel »feinsten weißen Büttenpapiers«, das meinem Sohn am Ende doch noch zu besorgen eingefallen war. Mein Federhalter – von dem die Tinte tropft – balanciert über den leeren Blättern, bereit, wieder einmal nach July zu suchen. Mein Lampendocht ist gestutzt und qualmt nicht mehr. Und mein Tee ist eingeschenkt. Solange mich nicht der Wind mit seinem Geheul stört – denn meine Jalousie lässt jede Brise durch sie hindurchpfeifen wie durch eine Rohrflöte –, will ich mich bemühen, das letzte Kapitel meiner Geschichte noch einmal zu schreiben. Aber lass mich, geneigter Leser, mit einer Auskunft beginnen.Wenn du im nächsten Teil dieser Erzählung von einem flatternden Huhn hörst, muss dich deine Erzählerin schon jetzt in ein Geheimnis einweihen: dass es in Wahrheit zwei gestohlene Hühner waren. Auf mein Wort!

FÜNFUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    Der Richter, das Gesicht rosig und in Schweiß gebadet, hatte sich die schwitzende Stirn mehrere gestohlene Minuten lang mit einem feuchten Tuch abgewischt, das anfangs kühlend gewirkt hatte, jetzt aber warm geworden war. Im Gerichtsgebäude der Stadt war es an jenem Tag so heiß, dass einer seiner Gerichtsdiener, frisch aus England und ganz in das dunkle Schwarz der Justiz gekleidet, ohnmächtig von seinem Stuhl gerutscht und auf dem Boden zusammengebrochen war. Dort bespritzte man ihn mit Wasser und fächelte ihm mit Rechtsdokumenten Luft zu, bis er wieder zu sich kam. Als der Richter schließlich aufblickte und in der Anklagebank July stehen sah, die darauf wartete, dass die Anklage auf »Diebstahl eines Haushuhns« verlesen wurde, beugte er sich langsam zu dem Gerichtsschreiber neben ihm und flüsterte laut: »Ist das eine Frau?«
    Denn der Richter vermeinte, auf nicht mehr als eine Säule garstiger Lumpen zu blicken. Wäre er nahe genug gewesen, um ihren Gestank zu riechen oder um die Fliegen zu bemerken, die sie umschwirrten und sich von ihrem Schmutz nährten, hätte er sie womöglich als eine wandelnde Scheißwurst bezeichnet.
    Geneigter Leser, vielleicht erkennst du den sonnendurchfluteten Gerichtssaal, dessen hellblaue Wände mit ehrfurchteinflößenden Gedenktafeln und Flaggen bestückt sind, seine Holztäftelung, seine Bänke und Tische, Perücken tragende Weiße in Schwarz und aufgeblasene Geschworene, die in strammer Haltung dasitzen, aber die July, die vor ihnen im Saal steht, die erkennst du nicht. Denn wir sind schnell gereist, um zu diesem
Gerichtssaal zu gelangen – an die dreißig Jahre sind vergangen, vielleicht auch mehr, seit wir July zuletzt begegnet sind.
    Also vergiss bitte die junge Frau mit dem ordentlich geflochtenen, stets mit einem sauberen bunten Kopftuch verhüllten Haar. Denk nicht an ihren Mund, den sie schelmisch verzog, als wolle ihm eine verschrobene Geschichte oder ein Lügenmärchen entweichen. Und suche nicht nach ihren lebhaften schwarzen Augen. Es ist Zeit, jene jüngere July aus dem Gedächtnis zu verbannen, denn soeben ist eine andere eingetreten. Wenn man den Schmutz abwischte, würde klar, dass ihr Gesicht so von Auszehrung gezeichnet ist, dass der Knochenschädel des Todes darunter durchscheint; ihre Haut so gebräunt und zerfurcht wie eine vernachlässigte Kuhhaut; ihr Haar so verfilzt, dass es in steifen Strähnen absteht; und ihr Gang so gebückt, dass die dünnen zerfledderten Lumpen des Kleides, das sie trägt, wie ein Gewicht aussehen, an dem sie zu schleppen hat.
    Und da ihr kein Sitzplatz angeboten wird, krampft sie, um sich abzustützen, die Finger in das Holz der Anklagebank. Eine Bibel wird ihr hingeschoben.Was muss sie tun? Sie an
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