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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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Schließlich habe der Mob das Gefängnis angegriffen und niedergebrannt, um die Insassen zu befreien.
    »Eine sehr schlimme Sache, sehr, sehr schlimm. Aber die meisten Neger sind festgenommen worden, womit der Gerechtigkeit
Genüge getan wurde, wie das Gericht sich bestimmt erinnert. Die hier behauptet, nichts damit zu tun zu haben, aber der Anwalt war sich nie sicher – er meint, sie sei verschlagener als die meisten. Wie viele von ihnen dort noch leben? Nun, weniger als zuvor, soweit ich weiß. Viele sind an Krankheiten gestorben – meist an Gelbfieber. Mehrere Jahre hat man sie in Ruhe gelassen. Und das Land dort ist offensichtlich sehr karg. Es wächst dort nichts – vielleicht eine vereinzelte gelbe Bananenstaude – , weswegen einige von ihnen in letzter Zeit dem Hunger erlegen sind. Wenn sie wollten, gebe es immer noch Arbeit für sie auf der Plantage, hat der Anwalt gesagt. Aber die Neger scheinen nach wie vor zu befürchten, die Sklaverei könnte wieder eingeführt werden; die Insel könnte an die Amerikaner verkauft werden, und dann würden sie wieder versklavt … und so weiter und so fort; Argumente, die das Gericht nur allzu oft als Rechtfertigung für Verbrechen gehört hat. Und die hier, die Angeklagte, die sich nur July nennt, ist nie arbeitswillig gewesen.«
    »Bist du arbeitswillig?«
    Was, was? Sie kann ihn noch immer nicht hören.
    »Kannst du mich hören? Kannst du mich hören?«
    »Kannst du ihn hören?«
    Was?
    »Na schön. Fahren Sie fort. Kommen wir zur Anklage. Es ist so heiß hier.«
    Und Konstabler Campbell wird in den Gerichtssaal gerufen. Dürr wie ein Besenstiel, die Haut pockennarbig wie eine Brotfrucht. Die Angeklagte – und jetzt weist ein knochiger weißer Finger quer durch den Saal auf July – habe am Rand des Weges gelegen, der von der Stadt nach Unity Pen führt. Er habe sie für tot gehalten, da sie sich nicht gerührt habe. Sie sei mit einem schmutzigen alten Schultertuch bedeckt gewesen. Also habe er sie getreten. Und sei ziemlich überrascht gewesen, als sie sich zu regen begann. Sie habe ihn mehrfach mit Flüchen belegt, die er
nicht wiederzugeben gewillt sei. Er habe sie gefragt, was sie da tue. Sie habe gesagt, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Er habe die Frage wiederholt, und diesmal habe sie geantwortet, sie sei auf dem Weg zum Markt. Aber es sei schon sehr spät gewesen, um noch zum Markt zu gehen, und das habe er ihr auch gesagt.
    Da sie ihm suspekt erschien, forderte der Konstabler sie auf, sich vom Erdboden zu erheben.Als sie ihm unmissverständlich zu verstehen gab, er solle seiner Wege ziehen, hörte er unter ihrem Tuch etwas glucken. Auf einmal sah der Konstabler, dass dort ein flatterndes Huhn verborgen war, und fragte sie, wo sie das Tier herhabe. Die Negerin erwiderte, sie habe es aufgezogen. Als der Konstabler sie aufforderte, den Vogel hervorzuziehen, damit er ihn in Augenschein nehmen könne, rannte die Angeklagte davon. Als der Konstabler sie einholte, befand sich unter ihren Kleidern keine Henne mehr. Daraufhin beschimpfte sie den Konstabler, weil ihr seinetwegen ihr einziges Huhn abhandengekommen sei – mit den unflätigsten Worten, die der Konstabler je über sich hatte ergehen lassen müssen. Da nahm er sie wegen Diebstahls fest.
    »Hast du das Huhn gestohlen?«
    »Nein, Massa, war meins, hab’s aufgezogen.«
    »Was hat sie gesagt? War das dein Huhn?«
    »Ja, Massa, hab’s aufgezogen, hab’s dann verloren.«
    »Was hat sie gesagt?«
    »Sie sagt, sie habe das Huhn aufgezogen, Euer Ehren.«
    »Ja, aber wo hatte sie es her?«
    »Auf Allen Pen, da hat’s mir jemand gegeben, dass ich’s aufziehen tu.«
    »Was sagt sie?«
    »Irgendetwas über Allen Pen. Ich glaube, sie sagt, jemand habe ihr das Huhn zur Aufzucht gegeben.«
    »Ja, aber sagst du auch die Wahrheit? Fragen Sie sie, ob sie die Wahrheit sagt.«

    »Hab die Hand auf ’m Buch, und der Herr soll mich strafen, wenn ich nich’ die Wahrheit sag.«
    »Was sagt sie?«
    »Sie möchte die Hand auf die Bibel legen, um zu beweisen, dass sie die Wahrheit sagt.«
    »Hat sich die Henne am Ende wiedergefunden?«
    »Nein, Euer Ehren.«
    »Hat jemand Anzeige erstattet, dass er eine Henne vermisst? «
    »Bisher nicht, Euer Ehren.«
    »Hat sie schon einmal vor Gericht gestanden?«
    »Hm, nein, nein, anscheinend nicht. Ich glaube, das ist ihr erstes Mal vor Gericht, Euer Ehren.«
    »Ach, dann lassen Sie sie laufen. Die Beweislage ist wirklich zu dürftig, um sie den Geschworenen
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