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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass
Autoren: Rachida Lamrabet
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De Vlaeminck AG
    »Verdammt!«
    Schlagartig wurde ihm bewusst, dass es ein Fehler war, jetzt so abrupt auf die Bremse zu treten. Doch sein rechter Fuß folgte da bereits einem instinktiven Reflex und drückte das Bremspedal tief durch. Ein schmerzhafter Krampf fuhr ihm in die Wade, doch er trat weiterhin mit ganzer Kraft aufs Pedal.
    Er versuchte noch, das ungelenke Gefährt von seiner tödlichen Bahn abzubringen, und riss mit einer hektischen Bewegung das Lenkrad linksherum. Auch diesmal merkte er, dass die Panik ihn falsche Manöver ausführen ließ.
    Er hörte, wie sich die Ladung hinten im Lkw mit einem Krachen verschob.
    Pebble stones. Deshalb wollte plötzlich jeder seinen Garten und die Terrasse unbedingt mit diesen Kieselsteinchen belegen, davon war er überzeugt.
    Früher war er auf seinem Kies hocken geblieben. Doch es genügte, den Steinen einen englischen Namen zu geben. So einfach geht das manchmal. Ein englischer Name erhob die Kiesel in den Stand kostbarer Edelsteine.
    Alle waren sie hin und weg von seinem aus Bali und Indonesien importierten Dark Ocean Pebble oder dem geheimnisvollen Indian Red Pebble. In den wohlhabenden und grünen Vororten der Stadt waren diese beiden Sorten besonders beliebt.
    Männer mochten den Rock-’n’-Roll-Schriftzug seiner De Vlaeminck AG. Frauen waren wochenlang mit der Auswahl aus den verschiedenen Farben, Strukturen und Größen beschäftigt, denn ach, wie schwer das doch war. Immer wieder kamen sie bei ihm vorbei zum Schauen, Fühlen und Vergleichen. Und wenn man meinte, sie hätten nun endlich eine feste Wahl getroffen, riefen sie ihn schon ein paar Stunden später wieder an, sie würden doch noch mal kommen, um wirklich sicher zu sein.
    Auf jeden Fall wollten sie ihrem Garten unbedingt ein mediterranes oder orientalisches Ambiente verleihen, und deswegen brummte sein Laden. Den Kieselsteinen verdankte er auch seinen neuen Lastwagen, auf den er in großen dunkelblauen Lettern den Namenszug des Familienunternehmens hatte malen lassen. Und über die ganze Breite der großen Windschutzscheibe hatte er oben aus durchsichtigem sonnenabwehrendem Plastik den Namenszug ebenfalls anbringen lassen.
    Sein Vater wäre stolz gewesen.
    Er hingegen war auf seinen Sohn nicht stolz. Jasper fand das alles ziemlich lächerlich. Vor allem die Vorstellung, in den Laden seines Vaters mit einzusteigen. Jasper wollte Filme machen. Zeichentrickfilme.
    Das dumpfe Geräusch des Aufpralls breitete sich langsam und unaufhaltsam im ganzen Lastwagen aus. Es fing mit einem Kribbeln im rechten Fuß an und kroch unter seiner Haut wie eiskaltes Gift weiter. Langsam durchzog es sein rechtes angespanntes Bein, bis zum Magen hinauf, der sich zusammenkrampfte. Als die Welle den Brustkorb erreichte, kam es ihm vor, als würde sein Herz, das zuvor noch wie wild gerast hatte, kurz aufhören zu schlagen.
    Der Laderaum neigte sich nach rechts, er spürte, wie die linken Reifen für einen Moment die Bodenhaftung verloren.
    Die Ladung mit den polierten Kieselsteinen, die sich alle schön ordentlich, nach Farbe und Namen sortiert, in offenen Zweitonnensäcken befanden, schwappte nun ungehindert über den Pritschenrand und ergoss sich wie ein tropischer Platzregen über den Asphalt, den Rinnstein und bis auf den Gehweg. Ein grüner öffentlicher Abfalleimer füllte sich schnell mit feinen White Sand Pebbles und brach unter der Last aus der Halterung heraus. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm kippte der Laster auf die rechte Seite. Er krallte sich noch stärker am Lenkrad fest und hielt immer noch das Bremspedal durchgedrückt, auch wenn ihm vollkommen klar war, dass er keinerlei Einfluss mehr darauf hatte, welche Richtung der Wagen einschlug. Aber er suchte Halt an dem großen Lenkrad, als könnte er damit den höheren Mächten, die nun für sein Schicksal verantwortlich waren, begreiflich machen, dass er an seinem Leben hing. Er wollte jetzt nicht sterben. Er würde nicht loslassen.
    Wie durch ein Wunder fiel der Wagen überraschend wieder zurück auf die beiden linken Räder und kam endlich zum Stehen. Aus einem Hügel von dreißig Tonnen Kieselsteinen mitten auf der Fahrbahn ragte wie ein einsamer Baum die Ampel heraus.
    Wie jeden Morgen zog er pünktlich um Viertel nach sieben die Wohnungstür seiner Zweizimmerwohnung hinter sich ins Schloss, um exakt 513 ½ Schritte später das Häuschen der Bushaltestelle zu erreichen, wo er immer als Erster und oft auch als Einziger auf seinem angestammten Pflasterstein auf
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