Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass
Autoren: Rachida Lamrabet
Vom Netzwerk:
den Bus in nördliche Richtung wartete. Obwohl er sich hundertprozentig sicher sein konnte, dass er zu dieser Stunde der Erste sein würde, überkam ihn stets eine gewisse irrationale Angst, sein Stein könne womöglich besetzt sein. Jedes Mal, wenn er um die Ecke bog und das Wartehäuschen langsam auftauchte, das so früh am Morgen trostlos aussah, spürte er, wie bei ihm die Spannung in den Beinen zunahm. Es kostete ihn eine nahezu überirdische Anstrengung, nicht einfach schneller zu gehen, denn er wollte sich auf keinen Fall verzählen. Außer Atem, nur zwei Steine von seinem Bestimmungsort entfernt, fürchtete er noch immer, jemand könne plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Und jedes Mal stieß er aufs Neue einen erleichterten Seufzer aus, wenn er dann seinen Stein erreicht hatte und auf ihm stand. Das war einer der seltenen Momente, in denen er lächelte.
    Es verstrich kein Tag, an dem in den Nachrichten nicht über die Erderwärmung berichtet wurde. Ihm war auch aufgefallen, dass man immer weniger hellhäutige Belgier im Bus oder auf der Straße antraf. Er presste seine Aktentasche fester an sich.
    Und einige Weiße sahen eindeutig fremd aus. Es lag an dem grellen Blond ihrer Haare, ihrer ungesunden Blässe. Am stärksten fiel es ihm jedoch an der Art auf, wie sie ihn ansahen.
    Leute aus dem Osten. Ukrainer, Polen.
    Er wendete das Gesicht ab.
    Während er auf seinem Stein stand und auf den Bus wartete, überschlug er in Ruhe den Tag. Zunächst würde er eine Viertelstunde im Bus sitzen, falls auf den Straßen viel los war, vielleicht auch zwanzig Minuten. Danach folgten 322 Schritte zur Firma. Dort würde er zuerst die Empfangsdame begrüßen und danach zur Stechuhr gehen. Fünfzehn Schritte bis zum Aufzug. Er stellte sich immer in die rechte Ecke und drückte den Knopf in die zweite Etage. Vier Schritte geradeaus und dann elf schräg nach rechts. Die Putzfrau ließ die Tür von seinem Büro immer offen stehen. Eine Stunde zuvor hatte sie den Papierkorb geleert und äußerst oberflächlich den Boden gesaugt. Sie konnte es einfach nicht lassen, seine Schreibutensilien und die Akten auf dem Tisch zu verrücken. Doch ihm gefiel das, und er genoss es sogar, jeden Morgen die Ordnung wiederherzustellen und sie auch noch ein wenig zu verfeinern. Denn meistens stellte die Putzfrau alles zwar mehr oder weniger an den richtigen Ort, doch nur er wusste ganz genau, wie die Dinge ausgerichtet sein mussten. Fünf Schritte, und er stand vor seinem Schreibtisch, legte die Aktentasche auf dem Bürostuhl ab und schob den Stifthalter eine Nuance nach links, damit der Tintenfleck, der Jahre zuvor in die Schreibtischplatte eingezogen war, nicht zu sehen war. Die beiden Akten, die rechts auf dem Schreibtisch lagen, verschob er ein Stück weiter zum Tischrand. Die Schreibtischunterlage mit der Jahresübersicht und dem Logo der Firma rückte er mit beiden Händen so zurecht, dass sie horizontal zwischen den beiden Maserungen platziert war, die nur er erkennen konnte und auch nur, wenn er ganz genau hinsah.
    Die Putzfrau kam aus Nordafrika.
    Er wusste nicht, wie sie hieß.
    Eines Tages erschien sie mit einem Kopftuch zur Arbeit. Er erschrak, und ihm wurde bewusst, dass er nicht einmal hier drinnen sicher war.
    Er war erschüttert, dass niemand an dem provozierenden Symbol Anstoß zu nehmen schien. An diesem Banner.
    »Es gibt genug junge flämische Frauen, alleinstehende Mütter, die mit beiden Händen zupacken können, die gerne arbeiten würden, um endlich der Arbeitslosigkeit zu entkommen.«
    Er unternahm mehrere Versuche, eine E-Mail an die Personalabteilung zu schreiben. Doch jedes Mal, wenn der Cursor über dem »Senden«-Symbol zögernd flackerte, schob er ihn schließlich doch zu »Löschen«. Ohne mit der Wimper zu zucken, klickte er dann auf die linke Maustaste.
    Er hörte, wie sie lachte und sich unterhielt.
    Mit einem Antwerpener Akzent.
    Er begriff, dass er die Flut nicht mehr aufhalten konnte.
    Irgendwo am Stadtrand standen die Horden und warteten auf das Bannerzeichen.
    Auch wenn es ihn erschöpfte, kam er nicht auf die Idee, das Zählen einfach sein zu lassen. Schon der leiseste Gedanke daran hätte furchtbare Folgen. Seine Welt würde mit einem ohrenbetäubenden Lärm zusammenstürzen. Zum Auftakt würde ein Kieselsteinchen mit einem sanft klickenden Geräusch die Bergwand hinunterrollen, dann würde sich ein Stein lösen, und später würde die Bergspitze in riesigen Brocken abbrechen und mit einer enormen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher