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Die Hand

Die Hand

Titel: Die Hand
Autoren: Wolfgang Ecke
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Alle sind unzufrieden

    Es regnete seit sechzehn Tagen ununterbrochen. Dazu wehte heute noch ein ekelhafter Wind, der den Leuten auf der Straße dicke, schwere Tropfen ins Gesicht klatschte. Das nannte sich nun Frühling. Ganz London schien mißmutig zu sein. Busfahrer hupten ungeduldig vor ihnen fahrende Autos an und stritten sich mit gereizten Fahrgästen um das Wechselgeld.
    Triefend nasse Regenschirme verfingen sich in Kleidungsstücken und Einkaufskörben. Ein vornehmer englischer Herr blickte nach oben, und über seinen Hintermann ergoß sich die Fülle gesammelten Regenwassers aus der Hutkrempe.
    Selbst die Armbewegungen, mit denen der Bobby am King’s Place den Verkehr regelte, wirkten kurz angebunden und mißmutig. Der Blumenverkäufer in der Elmstreet hatte seinen kleinen Stand mit einer dicken schwarzen Ölplane gegen den Regen geschützt und murrte vor sich hin, weil keinem seiner Kunden daran gelegen schien, sich dem aufdringlich nassen Wetter auszusetzen. Ehefrauen schimpften mit ihren Männern, die den Straßenschmutz in der Wohnung herumtrugen, statt die Schuhe gleich auf die bereitgelegten Zeitungen zu stellen. Die Männer wiederum mäkelten über die Kochkünste ihrer Frauen. Chefs raunzten ihre Angestellten an, Väter ihre Kinder. Da diese niemanden hatten, an dem sie ihren Unmut auslassen konnten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als beleidigt zu schmollen. Kurz: alle waren unzufrieden an diesem 12. Mai. Es herrschte so eine Art „Reizklima“.
    Das traf auch auf den Jungen zu, der an diesem Tag, um genau 17 Uhr 39, in der kleinsten von drei Wohnungen im vierten Stock des Hauses Starplace Nr. 14 im Stadtteil Norwood saß. Das Haus, ein alter, grauer Steinklotz mit fünf Etagen, zeigte eine Menge dunkler Stellen, an denen sichtbar der Zahn der Zeit genagt hatte. Heute tauchte dieses Haus in das trübe Wetter wie ein Chamäleon, das sich durch Tarnung verbirgt.
    Noch etwas muß im Zusammenhang mit diesem Haus unbedingt erwähnt werden: Im vierten Stock, in dieser bereits erwähnten kleinsten von den drei dort befindlichen Wohnungen, ist Perry Clifton zu Hause, der Detektiv, der bisher jeden Fall geklärt hat — jeden Fall, mit dem er sich befaßte, natürlich. Deshalb war es auch nicht seine Schuld, daß Diamanten im Wert von dreieinhalb Millionen Pfund aus einem spektakulären Raub im Flughafen Heathrow immer noch nicht gefunden waren. Er konnte auch nichts dafür, daß ein gewisser Lord Lighton in Kent auch heute noch seiner weltberühmten Gemäldesammlung nachtrauern mußte. Der brave Lord grübelte regelmäßig darüber nach, wie es die Diebe geschafft hatten, sämtliche 85 Bilder aus seinem Schloß zu stehlen, während er praktisch nebenan schlief.
    Scotland Yard suchte seit Jahren vergeblich nach einem Goldtransport, der am hellichten Tag in Birmingham spurlos verschwunden war. Nur die beiden Fahrer des Panzerwagens tauchten zwei Stunden später wieder auf. In recht gehobener Stimmung übrigens, was aber nur daran lag, daß sie mit Lachgas betäubt worden waren, und das von einem scheinbar schwerverletzten Mann, der mitten auf der Straße lag und damit die Fahrer zum Anhalten und Aussteigen veranlaßt hatte. Aber an diesem 12. Mai dachte niemand mehr in London an diese Räubereien. Schon gar nicht Perry Clifton, der jetzt gerade, um 17 Uhr 40, in seiner Wohnung mit Dicki Miller zusammensaß.
    Dicki nahm einen großen Schluck Kakoffee, sein Lieblingsgetränk.
    Perry Clifton, nach Dickis Meinung der größte aller Detektive, hatte die Mischung aus Kakao, Kaffee, Vanille und Sahne eigens für seinen glühendsten Bewunderer erfunden.
    Perry, der den Schlagball 112 Meter weit werfen konnte, wofür ihn Dicki noch um so tiefer verehrte, stieß eine dicke Rauchwolke aus seiner Tabakspfeife und betrachtete interessiert den weißen Sahneschnauz über Dickis Oberlippe, der nach und nach der weit herausgestreckten Zunge seines jungen Freundes zum Opfer fiel.
    Dicki seufzte zufrieden, als er sein Werk vollendet hatte, und philosophierte: „Wo Regen ist, ist auch Sonne, heißt es doch, Mister Clifton. Oder so ähnlich jedenfalls...“
    „Wie kommst du denn jetzt darauf, Dicki?“ Perry war auf eine derart epochale Erkenntnis nicht gefaßt und blinzelte deshalb leicht verwirrt.
    Dickis Grinsen hatte beinahe etwas Hinterhältiges an sich: „Na, weil ich Mutter wegen dieses miserablen Wetters seit zwei Wochen nicht zum Einkaufen begleiten muß. Sie ist doch immer in Sorge, ich könnte mich
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