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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass
Autoren: Rachida Lamrabet
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ein paar Schritte vor und blickten in die Richtung, aus der der Bus kommen sollte. Nun warf auch der untersetzte Mann einen Blick auf seine dicke Armbanduhr.
    Eine Dame schlängelte sich zwischen der Frau mit dem Shopper und dem untersetzten Mann hindurch, um sich ins Bushäuschen zu stellen, auf den Platz, auf dem zuvor die Frau mit dem Einkaufstrolley die ganze Zeit gestanden hatte, unmittelbar neben dem Fahrplan. Die Frau mit dem Shopper bemerkte zu spät, dass jemand nun auf ihrem Platz stand. Empört zog sie ihr Wägelchen in das Häuschen und stellte sich möglichst nah neben die andere Frau. Ihre Nasenflügel bebten vor Empörung.
    Er brauchte schnell einen Plan B. Die Leute fingen an zu drängeln und wurden allmählich unruhig. Der untersetzte Mann streifte ihn beim Vorübergehen.
    Er reckte den Hals, um sie alle zu überragen. Vorerst blieb er felsenfest auf dem Stein stehen. Er warf einen Blick auf seine Schuhe und schaute dann auf seinen Stein.
    Junge Leute.
    Viele junge Leute, alle mit einer gewissen energischen Selbstverständlichkeit. Der Kämpferdrang der Überlebenden. Auf ihn nahmen sie keinerlei Rücksicht. Dabei war er hier doch zuerst gewesen. Und er stammte auch von hier. Genau wie sein Urgroßvater, sein Großvater. Die Hände seines Vaters. Dieser Boden. Sie kamen einfach und okkupierten rücksichtslos seinen Platz. Drückten ihn in die Ecke. Fragten nicht erst, sondern nahmen sich einfach alles.
    Der Stein spiegelverkehrt, dachte er. Auf der anderen Seite der Glasscheibe, außerhalb des Schutzes des Wartehäuschens, war der Stein noch unbesetzt. Er zögerte nur einen Augenblick, zählte bis drei und hatte mit sechs Schritten auf der anderen Seite der Glasscheibe den Spiegelbildstein erreicht. Er fühlte sich dort sofort wohl. Der Spiegelbildstein gab ihm dasselbe Gefühl der Ruhe wie der Originalstein im Wartehäuschen. Zudem bildete die Glasscheibe eine Trennwand zwischen ihm und der Menschengruppe, die unruhig auf den Bus wartete. Das war ein zusätzlicher Vorteil, den er gar nicht bedacht hatte. Er lächelte.
    Für einen Moment vergaß er, dass er auf den Bus wartete, der in der Ferne aus ungeklärtem Grund zwischen zwei Haltestellen stehen geblieben war. Auf der anderen Seite, in entgegengesetzter Fahrtrichtung, hielt ein Bus an. Leute stiegen ein und aus. Wendig fügte der Bus sich erneut in den Straßenverkehr ein. Der Bus fuhr in einen Stadtteil, in den er noch nie gekommen war. Es gab für ihn dort kein Ziel, und Entdeckungslust besaß er keine. Durch die Glasscheibe und die wartenden Menschen hindurch spähte er nach seinem Bus. Er stand noch immer dort.
    Auch als der Bus aus der entgegengesetzten Richtung an ihm vorbeifuhr, änderte er nichts an seiner störrischen Bewegungslosigkeit. Vorerst brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Er stand auf dem Spiegelbildstein, und noch musste er nicht zählen.
    Die beiden Mädchen liefen an ihm vorbei. Plaudernd entfernten sie sich von den Wartenden. Kurz darauf lief der untersetzte Mann schnurstracks in Richtung des stillstehenden Busses, nachdem er zuvor noch einen deutlich erbosten Blick auf die Armbanduhr geworfen hatte. Und die Frau mit dem Shopper ließ einen nörgelnden Monolog auf die Dame ab, die ihren Platz eingenommen hatte.
    Er blickte weiter starr vor sich hin. Auf der anderen Seite hielt pünktlich nach Plan ein Bus an und ließ die Fahrgäste ein- und aussteigen. Irgendwann hatte er das Gefühl, sich in einer Zeitschleife zu befinden. Immer derselbe Bus, der an derselben Stelle anhielt, um dann immer dieselben Wartenden mitzunehmen und dieselben Leute abzusetzen. Die Leute, die ausstiegen – die Frauen meist in der Überzahl –, verteilten sich in einem immer wiederkehrenden Muster in alle Richtungen, und wenige Sekunden später waren sie aus seinem Sichtfeld verschwunden. Sein Blick blieb sekundenlang an einer Frau mit einem fuchsiafarbenen Kopftuch hängen, die irgendwohin hastete.
    Er beneidete sie. Auf der anderen Straßenseite ging das Leben seinen normalen Gang.
    Wieder schaute er zu dem stillstehenden Bus. Der untersetzte Mann befand sich auf halber Strecke. Wieso war es so schwierig, einfach weiterzufahren? Es gab doch eine festgelegte Strecke. Haltestelle nach Haltestelle, wie die Freipfähle bei einem Kinderfangspiel. An diesen Stellen war man hola, in Sicherheit. Und die Abstände zwischen den Inseln konnte man ohne Gefahr überbrücken, wenn man sich an seine Schritte hielt. Solange man konzentriert und konsequent
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