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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass
Autoren: Rachida Lamrabet
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Geschwindigkeit hinunterdonnern und seinen zarten, wehrlosen Körper zerschmettern. Manchmal wurde er in der Nacht mit Herzrasen wach. Dann hatte er von den Kieselsteinchen geträumt, eine Bergflanke, übersät von Abertausenden Kieselsteinchen, in deren Mitte er sich befand.
    Atemlos.
    Er fuhr mit der Hand über den Bildschirm.
    Die Polarspitzen schmolzen unter seinen Fingern, er konnte die Wärme spüren. Die Stimme des Sprechers zählte gefühllos die Ursachen dieses Phänomens auf.
    Ihn beruhigten die Wissenschaftler, die behaupteten, noch sei es nicht zu spät.
    Er drehte die Heizung aus. An kalten Tagen lief er mit zwei Pullovern und drei Paar Socken herum. Aber die anderen, die tausend anderen, sie kamen alle hierher, um zu konsumieren, um sich aufzuheizen, um im Neonlicht zu baden. Um die Jahre der erzwungenen Sparsamkeit wieder aufzuholen. Sie kümmerten sich nicht um die Zukunft. Sie lebten bereits in der Zukunft. In vollen Zügen.
    Er sah ihren Blick, und die Gier in ihren Augen machte ihm eine Heidenangst.
    Er war gerade seinen gesamten Tagesablauf durchgegangen, bis hin zu dem Moment, an dem er abends an der Haltestelle im Norden wieder auf den Bus warten würde. Nicht mehr lange, der Bus würde gleich kommen. Er starrte bewegungslos vor sich hin, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren.
    Erst als sich das Wartehäuschen zusehends füllte, wurde ihm bewusst, dass der Bus Verspätung hatte. Als ein untersetzter Mann in den Fünfzigern sich als Erster stillschweigend zu ihm gesellte, war alles noch normal. Es dämmerte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte, als zwei aufgeregt plappernde Teenager und eine Frau mit einem Einkaufstrolley gleichzeitig auftauchten und einen Platz in dem Häuschen in Beschlag nahmen. Stärker als das Gequassel der beiden Mädchen störte ihn das nervöse Hantieren der Frau mit ihrem Shopper. Nervöse Leute beunruhigten ihn immer.
    Er hatte das Gefühl, sie trügen einen Virus mit sich herum, den er sich mit großer Wahrscheinlichkeit einfangen würde. Von dem Moment an, da er es bemerkte, konnte er eine unterschwellige Anspannung spüren. Als würde er in ein elektromagnetisches Feld gezogen, aus dem er sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien konnte.
    Er spürte die fieberhaften Versuche der anderen, ihre Nervosität zu überdecken, sie zu verbergen. Und es waren gerade diese sinnlosen Versuche, die ihn erschöpften. Nervosität war ein Zeichen der Unsicherheit, der Angst. Er hingegen wusste genau, was auf jeden Schritt folgte. Er hatte also keinen Grund, sich unsicher zu fühlen. Er verstand nicht, warum die anderen es sich so schwer machten. Nichts in ihrer Welt war selbstverständlich, dabei war es doch so einfach. Vielleicht fehlte es ihnen einfach an der Disziplin zum Zählen.
    Er hörte seine Sprache nicht mehr auf der Straße.
    Dickköpfig weigerten sie sich, ihr Kauderwelsch abzulegen. Sie sprachen stur in fremdartigen Lauten und Silben weiter, die sich auf etwas zu beziehen schienen, das es nicht gab. Eine Geheimsprache, mit der sie die Ordnung in Frage stellen konnten, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Eine Sprache, die ihnen helfen würde, die Macht zu übernehmen – sang- und klanglos. Worauf die endlose Zeit der Unterdrückung anfangen und nie wieder enden würde.
    Manchmal suchte er einen Fixpunkt. Irgendetwas, was ihn beruhigte, etwas, das ihm die Gewissheit gab, sich noch immer im Bus auf dem Weg ins Büro zu befinden. Und dass er, wenn er ausgestiegen war, auch wieder Leuten begegnete, die dieselbe Sprache wie er sprachen, die er verstehen und mit denen er sich unterhalten konnte.
    Manchmal reichte es aus, zum Busfahrer hinzuschauen.
    Einmal erschrak er so, dass er fast den roten Notrufknopf gedrückt hätte. Hinter dem Steuer des großen Busses saß eine dunkle Frau in Uniform. Er zählte vierzehn Schritte bis zu ihr und fragte sie, wohin sie fahre. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, antwortete sie, dass die Fahrt in Richtung Norden ginge. Es gab keinen Zweifel. Sie waren überall.
    »Loslassen!«, schrie er sie in Gedanken an, aber die Frau mit dem Shopper studierte weiterhin verwirrt den Fahrplan und schaute dabei mehrmals auf die Armbanduhr. Eines der beiden Mädchen trat aus dem Wartehäuschen und warf einen Blick die Straße hinunter. »So was, da hinten steht er ja!« Ihre Freundin kam zu ihr. »Das ist er doch! Das ist doch der 22er?«
    Die Freundin spähte in die Ferne. »Ja, aber weshalb steht er dort einfach so herum?«
    Alle außer ihm gingen
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